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Wolkenbruch

Unaufhörlich prasselte der Regen auf die Straßen nieder. Der alleinige Gedanke an das kühle, windige Nass reichte aus, um sämtliche Menschen die Vorhänge schließen zu lassen. Niemand sah bei diesem Wetter aus dem Fenster – wenn es aber doch jemand tat, konnte eine einsame Gestalt in der Dunkelheit gesichtet werden.

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Still lag die Welt vor meinen Füßen. Keine Lichter, kein Verkehr. Nur der heulende Wind, der mit dem Regen ein Duett zum Besten gab.

Längst vergangene Musik erklang wieder in meinen Ohren. Hauswände rückten näher, die Temperatur schwoll an, der Regen verschwand und zahlreiche Menschen bewegten sich rhythmisch im Schein der bunten Lichter. Ich, so sorglos und verliebt, zwischen ihnen. Nichtsahnend, dass die Ouvertüre angespielt wurde. Nichtsahnend, dass der Teufel in jener Nacht anfing ein Orchester zu leiten.

In meiner Hand hielt ich zitternd das Foto von diesem Abend. Erstaunlich, was eine einzelne Fotografie auslösen konnte. Die aufkommende Erinnerung schien zum Greifen nahe.

In meinem gedanklichen Raum stapelten sich die Fotografien bis zu den Knien. Ich konnte kaum einen Schritt nach vorne oder zurück gehen. All das drohte mich zu ersticken. Doch nicht meine Lunge, denn in Wirklichkeit stand ich auf offener Straße im Regen. Nein, mein Verstand drohte zu versinken. Mein einziger Ausweg aus der Vergangenheit war die Tür. Ich bräuchte nur die Klinke herunterdrücken.

Damals, ein Regentag wie der Heutige. Kalt und windig. Doch damals hatte ich eine wärmende Hand in meiner gehalten. Wir waren durch den Park gerannt. Steine wurden rutschig, Bäume bogen sich der Erde entgegen und Straßenlaternen flimmerten schwach.

Der Teufel wies sein Orchester an crescendo zu spielen.

Für die Ewigkeit, schworen wir uns unterm wolkenverhangenen Himmelszelt. Für die Ewigkeit und alles was danach kommt.

Schlussendlich währte die Ewigkeit 3 Jahre, 9 Monate, 27 Tage.

Das Orchester des Teufels spielte manchmal ruhiger und manchmal schneller, bevor es mit dem Paukenschlag meine Welt in Scherben zerschlug. In diesem Berg aus Bruchstücken baute mein Verstand mit blutigen Händen den Raum der Erinnerung auf. Dort drin war es ruhig und friedlich. Niemand außer mir konnte ihn betreten.

Wenn es einen Gott gab, fand eine wundervolle Seele ein neues Heim. Aber der Teufel reichte mir nur die Hand. Mit mir war er noch nicht fertig. Zum Walzer der Versuchung tanzten wir gemeinsam. Zeit, Realität hörte auf zu existieren.

Zu Anfang hatte ich ihn noch verflucht, verachtet, gehasst – bis mir klar wurde, dass der Teufel mir nicht den Weg zur Türklinke versperrte. Er verwehrte mir nicht die Chance auf einen Neuanfang. Er zeigte mir mein Begehren für die Vergangenheit.

Ich allein hatte Angst vor der Zukunft und auf Abstand von all den schönen Erinnerungen zu gehen. Die Realität ließ mich so stark erbeben, dass ich meine Hand wie die eines Süchtigen zu den Fotografien ausstreckte. Tag um Tag zog ich mich in meinen Raum aus Rückblicken zurück und ließ den Teufel seine Melodien schreiben und Orchester dirigieren.

Wenn ich dann einmal den Mut fand, um meine Hand auf die Klinke zu legen, zuckte ich sofort zurück. Schnell legte ich sie in die Hand des grinsenden Teufels und ließ mich in die nächste Drehung seines wilden Tanzes ziehen.

Nichtsahnend, dass das Nachspiel leise durch den Raum erklang.

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Unaufhörlich prasselte der Regen auf die Straßen nieder. Der alleinige Gedanke an das kühle, windige Nass reichte aus, um sämtliche Menschen die Vorhänge schließen zu lassen. Niemand sah bei diesem Wetter aus dem Fenster – wenn es doch jemand tat, konnte eine einsame Gestalt in der Dunkelheit gesichtet werden, die im Wolkenbruch versank.

Sophie-M. Kulisch, Klasse 12

Eva-Hoffmann-Aleith-Preis 2022, Epik, Preisträgerin