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Die Stimme des Königs (3)

Ein Traum?

Den ganzen Tag konnte ich an nichts anderes denken als an die “Nacht“. Ich hatte meiner besten Freundin Charlie alles erzählt. Sie ist die beste Freundin, die man nur haben kann. Sie hat dunkle, braune Locken, die ihr bis zur Schulter gehen. Sie ist, wie ich 18 und glaubt an unnatürliche Sachen, wie zum Beispiel an Aliens. Aber ihre Aliens leben nicht im Weltall, sondern auf der Erde und zwar laut ihrer Aussage 5000 Meter unter der Erde. Sie sagt auch, dass ihre Mutter eine „Spücke“ ist. Also eine Spinne und eine Mücke gemischt, weil sie sie mal mitten in der Nacht erwischt hat, wie sie gerade versucht hatte, ihrer Katze Gwenny eine Nadel in den Schwanz zu stechen. Aber ich mag sie trotzdem oder vielleicht gerade deswegen. Charlie beantwortet mir all meine Fragen sonst immer mit relativ klugen Antworten. Aber eine Frage, die konnte sie nicht beantworten. Denn ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt wirklich dort gewesen war oder ob ich geträumt hatte. Der einzige Weg es herauszufinden, war, noch zu warten.

Nach der Schule fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Während der Busfahrt entschloss ich mich dazu, meinen Eltern nichts von der Nacht zu erzählen, da sie mich sowieso für verrückt halten würden. Als ich wieder zu Hause angekommen war, wurde es gerade dunkel. Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür. Mein Zimmer war eines der Zimmer in unserem Haus, welches groß war und durch Balken getrennt wurde. Vor den Balken standen zwei Bücherregale und eine Couch mit zwei Sesseln daneben. Vor dieser Sitzecke stand ein kleiner Tisch mit meinen Zeichensachen, die mir meine Tante zu meinem achten Geburtstag geschenkt hatte. Auf den waagerechten Stützpfeilern standen Bilder von mir, meiner Familie und meinen Freunden. An den senkrechten Balken waren meine selbstgezeichneten Bilder von der Umgebung und einigen Tieren angepinnt. Ich ging durch diesen Teil des Raumes in die andere Hälfte. Hier standen ein Himmelbett mit blauen Vorhängen, ein großer Kleiderschrank aus dunklem Holz und mein Schreibtisch, neben dem ein kleiner Schrank mit vielen Schubfächern stand, in dem ich meine Schulsachen und Anderes aufbewahrte. Vor meinem Schreibtisch war ein großes Fenster, durch welches die Strahlen des Mondes ins Zimmer fielen. Ich stellte meine Tasche ab und setze mich auf meinen Bürostuhl. Dann schaltete ich die Lampe auf meinem Schreibtisch an und zog aus einem der Schubfächer eine kleine Kiste heraus. In dieser Kiste befanden sich Bilder von früher, als wir noch als eine große Familie gelebt hatten. Aber seit ungefähr 10 Jahren, seitdem meine Tante gestorben war, wohnen wir alle in verschiedenen Dörfern. Denn irgendwie hatten sie und ihr Mann unsere Familie zusammengehalten. Nun hatten wir eigentlich keinen Kontakt mehr zu dem Rest der Verwandtschaft.

Beim weiteren Durchstöbern der Kiste sah ich einen kleinen Gegenstand unter einem Foto. Ich schob das Foto beiseite und erkannte das kleine Kästchen wieder, das ich (mit den Zeichensachen) zum achten Geburtstag von meiner Tante bekommen hatte. Ich wusste noch, was mal darin gewesen war, eine Kette. Diese Kette verschwand nach dem Tod meiner Tante. Der Schmuck hatte ein seltsames Zeichen als Anhänger gehabt. Es schien mir immer wie ein Wappen von irgendetwas, doch Charlie und ich konnten seine Zugehörigkeit nie herausfinden. Auf diesem Wappen war ein großer Baum abgebildet, um den mehrere Leute standen. An kleinere Details jedoch konnte ich mich nicht erinnern.

Ich packte das kleine Kästchen wieder zurück in die Kiste und die Kiste in die Schublade. Dann schaltete ich das Licht auf meinem Schreibtisch aus und machte mich zum Schlafengehen fertig. Ich ging ins Bett und wusste, dass ich nur noch einen Tag warten musste, bis ich erfahren würde, ob alles tatsächlich so passiert war, wie es in meiner Erinnerung abgespeichert war.

Der folgende Tag verlief wie jeder normale Donnerstag mit einer seltsamen Ausnahme. Ich lief wie immer von der Bushaltestelle nach Hause. Doch als ich an dem Haus meines Nachbars ankam, standen dort jede Menge Leute und ein Krankenwagen. Ich ging auf sein Grundstück und sah meine Eltern in einer Traube von Leuten stehen. Ich rannte schnell zu ihnen und fragte: „ Was ist denn hier los?“

Meine Mutter antwortete: „Herr Berrymore wurde vor einer Stunde von der Postfrau tot in seinem Haus aufgefunden. Sie meinte, seine Haustür stand sperrangelweit offen, als sie ihm seine Post bringen wollte. Sie ging rein und fand ihn verbrannt in seiner Bibliothek sitzen. Er wurde scheinbar mit irgendetwas erstochen, dann verbrannt und danach in seiner Bibliothek drapiert. Nirgendwo im ganzem Gebäude sind Brandspuren. Nichteinmal der Sessel auf dem er saß ist verbrannt. Wer konnte es auf ihn abgesehen haben?“

Eine Frau rief meiner Mutter zu: „Frau Morstan könnten sie bitte kommen?“

„Die Pflicht ruft wohl“, sagte meine Mutter. Sie war Kommissarin und mein Vater arbeitete als Arzt. Er war auch schon im Haus von Herrn Berrymore verschwunden. Ich ging ihnen hinterher. Das Haus war sehr alt und sah irgendwie aus, als würde es jeden Moment in sich zusammenfallen.

Als ich einen Korridor entlang lief, fiel mir etwas auf, worauf die Anderen scheinbar nicht geachtet hatten, denn in diesem Flur war alles ordentlich und sauber mit Ausnahme eines schwarzen, verkohlten Fleckes an einer Wand. Beim näheren Betrachten fiel mir auf, dass es kein Fleck war, sondern ein Tuch, welches einen kleinen Tunneleingang bedeckte. Ich sah mich um, aber niemand war bei mir, also kletterte ich in den Tunnel, es war düster und kalt. Ich krabbelte bis in eine Sackgasse. Da war ein Hebel. Nur was würde passieren, wenn ich ihn betätigte? Vorsichtig drückte ich den morschen Hebel herunter. Erst passierte gar nichts. Doch dann sagte eine Stimme: „Willkommen Herr und Meister. Wie lautet ihr Sicherheitswort?“

Ich zuckte zusammen. Was würde passieren, wenn ich etwas Falsches sagen würde? Mal überlegen, Berrymore war ein alter Mann, ein Soziopath. Was würde ich da sagen?

„August Berrymore?“

„Dieses Sicherheitswort ist falsch. Noch zwei weitere Versuche.“

„Was würde ich an seiner Stelle sagen?“

„Dieses Sicherheitswort ist falsch. Noch ein weiterer Versuch.“

Verdammt, hab ich gerade laut gedacht?! Ich Trottel! Ok. Gut nachdenken. Ich wünschte, ich hätte ihn besser gekannt. Ich wünschte, ich hätte mich öfter mit ihm beschäftigt. Und auf einmal erschien es mir total logisch, genau das zu sagen: „Rethasien!“

„Diese Antwort ist korrekt“ Ich atmete erleichtert auf. Die Wand fuhr hoch und ich krabbelte weiter. Ich sah einen Lichtstrahl am Ende des Tunnels und eine Leiter. Ich kletterte die Leiter hoch und landete in einer Kammer. Die Kammer hatte mehrere Gänge und eine Art Fenster. Es waren nur Gitterstäbe, durch die das Licht der Sonne fiel. Ich suchte mir einen Gang aus und krabbelte hinein. Es war wieder stockdüster in dem Tunnel, aber ich drehte trotzdem nicht um, tastete mich wacker vorwärts und stieß auf eine Gabelung des Tunnels. Vorhin hatte ich den Tunnel ganz rechts genommen, also könnte ich ja jetzt den linken Gang nehmen.

Ich hätte vielleicht den anderen Weg nehmen sollen. Der Boden war matschig und roch morastig, als wäre man in einem Sumpf. Mir wurde übel und schwindelig und ich wollte umkehren, aber es ging nicht. Also krabbelte ich weiter nach vorn. Ich sah Lichtstrahlen aus einer modrigen Holzklappe. Es tropfte rot von der Klappe. Ich drückte sie vorsichtig nach oben und sah das Licht der untergehenden Sonne. Die Bäume wankten im Wind und es roch, als hätte es gerade eben geregnet. Ich kletterte durch die Luke hinaus und kniete mich auf das nasse kalte Moos. Wo war ich hier bloß gelandet? Es war ein Fichtenwald,der wie ausgestorben schien. Es waren keine Vögel zu sehen oder zu hören. Erst jetzt fiel mir der tote Hirsch neben der Klappe auf. Er war von einem scheinbar von größeren Tier erlegt worden. Ich bekam Panik. Was wenn das Tier, welches ihn getötet hatte, noch hier in der Nähe war? Was wenn es mich finden würde und der Hirsch nicht reichen würde?

„Elena hörst du mich?“, sagte eine, mir sehr vertraute, Stimme, „Beruhige dich. Ich stehe neben dir. Alles ist gut. Ich habe mich umgesehen. Es ist nicht mehr hier. Es ist vorhin geflohen, als es die Rufe eines Kindes gehört hat. Geht es dir gut? Du bist ja ganz blass und deine Knie bluten.“

„ Edmond! Du bist hier?! Ich kann dich nicht sehen. Wo bist du? Wieso sehe ich dich nicht? Mir geht es gut und das Blut ist nicht mein Blut.“ sagte ich, während ich mich nach ihm umschaute.

„Es ist, glaube ich, besser, wenn du mich nicht siehst. Hör mir gut zu. Du musst jetzt nach dem kleinen Mädchen suchen. Okay?“

„Ja mach ich.“

„Sehr gut. Bis bald.“, sagte er und verschwand vermutlich wieder.

„Edmond bist du noch da?“ ,aber er gab keine Antwort.

Ich rannte los und rief: „Hallo? Hört mich jemand?“

Ein kleines Mädchen antwortete mir: „ Hallo? Ja ich höre dich? Hilfst du mir? Ich bin in ein Loch gefallen und komme nicht mehr raus. Hallo?“ Oh Gott! Das war Claire!

„Claire keine Angst. Ich komme. Ich bin gleich bei dir. Alles wird gut. Hast du dir wehgetan?“ Ich sah sie, wie sie hoffnungsvoll in meine Richtung sah und ihr Bein hielt.

„Mein Bein tut ein bisschen weh“

„Okay. Kannst du aufstehen? Wenn ja, dann versuche es mal. Halte dich am besten an der Wand fest. Ich suche schnell etwas, an dem ich dich hochziehen kann.“ Ich sah mich um, doch ich konnte nichts sehen, was ich nutzen konnte. Also zog ich meine Jacke aus und reichte ihr einen Ärmel meiner Jacke.

„Halt dich jetzt gut fest. Ich ziehe dich jetzt hoch.“

Als sie oben war, fiel sie mir in die Arme und flüsterte: „Danke Elena.“

Ich lächelte sie an und sagte: „Na komm wir gehen nach Hause. Mum und Dad machen sich bestimmt schon Sorgen. Wieso bist du eigentlich hier so ganz alleine?“

„Ich bin dir gefolgt. Also zumindest glaube ich, dass du das warst. Vorhin kam jemand mit deiner Jacke an unserem Haus vorbei und lief in den Wald. Sie sah aus, wie du. Da hab ich mich gewundert und bin dir gefolgt. Doch dann warst du plötzlich weg. Und dann bin ich in das Loch gefallen. Beim Hochklettern bin ich dann abgerutscht und auf mein Bein gefallen.“

„Okay? Das ist ja seltsam. Das hast du dir bestimmt alles nur eingebildet. Tut dein Bein doll weh? Möchtest du huckepack kommen?“ Ihr grinsen verriet mir alles.

Als wir endlich aus dem Wald herausgefunden hatten, landeten wir auf einem Feld in dessen Nähe die Schnellstraße war. Wir liefen am Rand des Feldes bis zu meiner Bushaltestelle und von dort aus, den Weg, den ich jeden Tag lief, bis nach Hause. Endlich zu Hause angekommen, fiel mir auf, dass mein Rucksack immer noch bei Herrn Berrymores Haus stand. Das hieß, wir hatten keinen Schlüssel. Wir klingelten und unser Vater öffnete sofort die Tür und sagte erleichtert: „Da seid ihr ja endlich. Wir haben uns tierische Sorgen gemacht. Wie seht ihr überhaupt aus? Bin ich froh, dass euch nichts Schlimmes passiert ist. Claire, geh zu deiner Mutter und sag ihr, dass sie dich ins Krankenhaus fahren soll, dein Bein sieht nicht gut aus. Und nicht weggelaufen junge Dame. Mit dir hab ich noch ein Wörtchen zu reden.“

„Ich muss aber noch meine Tasche holen. Können wir danach reden?“ Er streckte mir meine Tasche entgegen.

„Danke.“

Mein Vater deutete mir mit seinem Kopf, dass ich bitte in den Salon gehen solle. Ich ging voran und er folgte mir. Er deutete auf einen Sessel und ich setzte mich darauf. Er hockte sich vor mich und untersuchte meine Knie. Da er Arzt war, wusste er genau ,dass mir nichts fehlte, aber trotzdem schaute er auf meine blutverschmierten Knie. Ich erklärte ihm, dass es nicht mein Blut sei und versuchte ihm auch zu erklären, was ich in dem Haus von Herr Berrymore entdeckt hatte.

Als ich fertig war, sah er nicht mehr so sauer aus, sondern eher verwirrt und besorgt.

„Darf ich jetzt schlafen gehen?“

„Ja natürlich. Danke mein Schatz. Schlaf gut.“

Ich umarmte ihn, lächelte ihm zu, verließ den Salon und ging in mein Zimmer. Ich wusste, dass, wenn ich einschlief, ich dann wieder nach Rethasien kommen würde.

Clara Ehrke, Klasse 12