Die Stimme des Königs (4)
Was ist passiert?
Beim Öffnen meiner Augen fiel mir auf, dass ich mich wieder im Wald von Rethasien befand. Die kalte Feuchtigkeit durchdrang meine Sachen und die frische Luft durchströmte meine Lungen. Während ich mich langsam aufsetzte, strich mein Blick durch den Wald. Es sah alles so viel düsterer als beim letzten Mal aus. Die Sonne schien nicht mehr durch die Baumwipfel und es waren auch keine Vögel mehr zu hören. Langsam und leise lief ich bis zum Fluss und suchte nach dem Tunneleingang. Dieser war knöcheltief mit Wasser gefüllt. Beim Herunterspringen in die flache Pfütze, spritzte das kalte Wasser hoch und hinterließ Spritzer von Matsch auf meinen Sachen. Kniend krabbelte ich durch den noch instabiler wirkenden Tunnel. Ständig rutschten meine Knie durch den Schlamm weg und machten den Versuch des schnellen Durchkrabbelns somit schwerer. Auf der anderen Seite angekommen, erblickte ich den Baum. Die riesige Eiche hatte nichts Majestätisches mehr. Als Schatten ihrer selbst, stand sie unter dunklen Regenwolken von Schädlingen zerfressen, da. Erst langsam und vorsichtig, doch dann immer schneller rannte ich Richtung Eiche. Auf halber Strecke riss mich etwas um. Mir entwich ein kurzer Schrei, kurz bevor mein Körper hart auf dem Boden aufschlug. Die Person schien ähnlich verwirrt. Doch bevor ich die mich aufrappeln und die Flucht ergreifen konnte, gab sie sich zu erkennen. Claryen. Es war Claryen. Mein Herz machte einen Sprung. Ein bekanntes Gesicht. Doch bevor ich diese Freude ausdrücken konnte, zog sie mich hinter einen Busch. Dahinter saß eine weitere Gestalt. Ein kurzer Blick und ich erkannte die rote Locke unter der schwarzen Kapuze. Diese gehörte unverwechselbar unserer gemeinsamen Freundin.
„Gut du bist endlich da, Elena. Das hat aber gedauert.“ sagte Amira.
„Wieso denn endlich?“ fragte ich.
Claryen beantwortete meine Frage mit einem „Psst!“. Sie spähte durch die Blätter. Ich tat es nun ebenfalls. Nur wenige Meter von uns entfernt, stand ein Mann. Er war ungefähr 1,80 m groß und hatte wie Edmond schwarzes Haar. Der Mann sah sich um, doch als er nichts entdecken konnte, wandte er sich ab und ging.
„Das war knapp“ entfuhr es Amira.
„Wer war das?“ fragte ich.
„Das war eine Wache aus dem Tal. Sie treiben, seitdem du gegangen bist, hier ihr Unwesen.“ erwiderte Amira ernst.
„Wo ist Edmond?“
„Das wissen wir nicht,“ seufzte Clairyen „er kam nicht aus dem Wald wieder.“
„Es ist nur meine Schuld.“ erwiderte ich, enttäuscht von mir selbst.
„Es trifft niemanden die Schuld.“ versuchte Amira mich zu beruhigen.
Ich wollte nicht widersprechen. „Was machen wir jetzt?“ fragte ich.
„Nicht wir. Ich.“ Claryens Miene war ernst.
„Aber Clary…“, versuchte Amira sie davon abzubringen, allein zu gehen, „Du schaffst nicht alles allein. Auch du brauchst mal Hilfe.“
„Wenn ich von euch Hilfe bräuchte, dann brauchen wir erst gar nicht gehen. Ich meine: Erstens ein Mädchen, das einen nur wegen ihrer Anwesenheit in Gefahr bringt und eine Dienerin, die noch nicht mal ein Schwert in der Hand halten kann. Super! Soll ich mich gleich selbst umbringen?“ spöttelte Claryen.
„Was meinst du damit? Also mit, dass ich jeden nur mit meiner Anwesenheit gefährde.“ Ich fühlte mich irgendwie schlecht. Meine Vorfreude auf diesen Ort war nun endgültig durch Schuldgefühle und Verwirrtheit ersetzt worden. Warum wollte ich nur wieder hierherkommen? Der Ort hatte jegliche Magie verloren. Es war nur eine Leere geblieben eine kalte Leere.
Claryen kam Amira zuvor und beantwortete meine Frage mit einem Schnippischen: „Na ja. Überlege mal kurz. Edmond bringt dich alleine in den Wald zurück und verschwindet dann spurlos. Ich schließe daraus, dass er irgendetwas über dich weiß, was wir nicht wissen.“
„Clary! Du kannst nicht einfach Elena die Schuld für Edmonds Verschwinden in die Schuhe schieben. Ich meine, einer von uns hätte mitgehen sollen.“
Wenigstens Amira glaubte an meine Unschuld. Da war sie aber die Einzige. Denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass es wahrscheinlich doch meine Schuld war. Außerdem kam es mir vor, als würden wir schon eine geraume Zeit beobachtet.
Plötzlich sagte eine Männerstimme hinter uns: „Mädels, Mädels. Verstecken lohnt sich nicht. Täusche ich mich, oder? Doch, na klar, Lady Amira. Und das ist dann bestimmt Lady Claryen.“ Er deutete auf Claryen. „Und wer bist du?“ Sein Finger zeigte auf mich.
Unsicherheit machte sich in mir breit. War es clever ehrlich zu antworten? Doch bevor mir eine Antwort auf diese Frage einfallen konnte, sprudelte es aus Amira heraus: „Sie ist meine Cousine Elena.“
Er schaute mich verwundert an. „Na ja, das tut jetzt nichts zur Sache, wie sie heißt.“, meinte er. „Ich nehme euch sowie so alle mit. Ob ihr wollt oder nicht.“ Und in dem Moment, als er seine Drohung aussprach, kam eine Faust von der Seite und die Wache ging zu Boden. Erst jetzt sah ich, dass jemand zu uns gekommen war und es war kein geringerer als Bruno.
Scheinbar stolz sprach Bruno: „Na, habt ihr mich vermisst? Meine Gabe ist doch nicht immer so unpraktisch.“
„Keine Sekunde zu spät, Bruno.“ Amira wirkte froh über sein Erscheinen.
„Wir sollten hier verschwinden. Ich kenne eine Höhle, da müssten wir heute Nacht sicher sein.“ sagte Claryen und krabbelte aus dem Busch. Bruno, Amira und ich folgten ihr. Als wir draußen waren, rannten wir nun von Gestrüpp zu Gestrüpp, um in Deckung zu bleiben.
Nach einer Weile kamen wir an eine steile glatte Felswand. Eigenartigerweise war an der ganzen Wand nicht ein Riss, geschweige denn so etwas wie ein “Eingang”. „Elena! Kommst du endlich?“ rief Amira. Seltsam, sie war weg.
„Amira? Wo bist du?“ Ich sah überhaupt nichts. Sie waren einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. In dem Fall wohl eher, wie von der Felswand verschluckt. Ich sah mich noch einmal richtig um. Doch da war niemand. Sie waren verschwunden. Eine Hand, die plötzlich aus dem Fels geschossen kam, packte mich am Kragen und zog mich hinein in das Dunkel des Steines. Ich traute meinen Augen nicht. Doch es war wahr. Wir befanden uns in einer riesigen Höhle. Diese war hell erleuchtet und in der Mitte durch einen großen See getrennt. Es war wunderschön. Ein riesiger Hirsch trank gerade aus dem See und seine Herde graste gar nicht weit von ihm. Er sah ein bisschen aus wie der tote Hirsch, den ich in meiner Welt gesehen hatte. Hier waren auch wieder Vögel. Sie zwitscherten fröhlich, als wäre alles so wie immer.
„Und gibt es etwas Neues aus dem Tal?“ fragte Claryen Bruno.
Er drehte sich ihr zu: „Ich habe ihn immer noch nicht gefunden. Also entweder, du liegst falsch, Schwesterherz, oder er ist supergut versteckt.“
„Ihr seid Geschwister?“ Verwirrt starrte ich nun beide an. Mein Blick schwankte zwischen Clary und Bruno. Doch ich konnte keine offensichtlichen Ähnlichkeiten feststellen.
„Ja, sind wir. Also, wir sind nur Halbgeschwister.“ fügte er schnell hinzu.
„Okay?“ Mein Blick wanderte noch immer zwischen beiden hin und her. Als ich mich endlich wieder gefasst hatte, fügte ich hinzu: „Vielleicht kann ich ja helfen. Ihr müsst mir nur sagen, was ich machen muss.“
„Erstmal wäre es gut, wenn du mit Amira hierbleibst.“ meinte Claryen. „Komm Bruno! Umso früher wir losgehen. umso besser.“ Sie war auf jeden Fall die Ältere. Schnell band sie ihre Haare zu einem Dutt und verließ die Höhle.
„Alles klar.“ Bruno hielt kurz inne. Ich konnte spüren, dass es ihm peinlich war, wie seine Schwester ihn vor uns behandelt hatte. Doch so schnell wie sein Blick von Stolz zu Peinlichkeit gewechselt war, änderte er sich wieder zu einem breiten Grinsen. „Bis bald.“ flötete er und winkte uns zum Abschied zu. Dann ging er seiner Schwester hinterher durch die Wand nach draußen.
„Nein, bitte geht noch nicht. Elena und ich können doch auch suchen!“, rief Amira ihnen noch hinterher, aber sie hatten sie nicht mehr gehört. Sie wirkte irgendwie wütend und traurig zu gleich.
„Was machen wir jetzt?“ fragte ich.
„Wir werden uns selbst helfen.“
„Und wie?“
„In dem wir uns Waffen aus dem Schloss holen. Und dann suchen wir Edmond auf eigene Faust.“
„Okay?“ Ich war mir nicht so sicher, ob das so clever war, wenn man bedachte, dass wir beide nicht kämpfen konnten. Aber in der momentanen Situation hatte ich auch keine bessere Idee. Amira schien mir wohl einiges zuzutrauen, also blieb mir auch nichts anderes übrig, als von ihr das gleiche zu denken.
Sie schaute, ob die Luft rein war und dann verschwand sie auch schon durch die Wand. Zuerst zögerte ich. Doch als sie nicht zurückkehrte, blieben mir nur zwei Optionen. Bleiben und hoffen, nicht gefunden zu werden oder in den vermutlich sicheren Tod zu laufen, aber immerhin nicht allein zu sein. Oh man. Ich bin doch verrückt. Nach einer halben Umdrehung zur Höhle und einem letzten Blick auf den friedlichen Ort entschied sich mein Gewissen und vermutlich auch mein Bauch für Option zwei. Langsam trat ich durch die Wand und überlegte mir schon eine gute Ausrede, warum es so lange gedauert hatte. Doch zum Ausspruch kam es nicht. Denn etwas Pfeilähnliches pfiff an meinem Kopf vorbei und geradewegs in die Höhle. Zurück konnte ich nun nicht mehr. Mich schnell wegduckend, wich ich anderen Pfeilen aus und sprang in Deckung. Etwas Großes kam auf den Busch zu, in welchem ich mich befand. Meine erste Hoffnung war, dass es Bruno, Clary oder Amira waren. Doch die Schritte waren zu schwerfällig. Äste knackten, als sich die Person weiter näherte. Was, wenn es wieder eine Wache war? Ich krabbelte hektisch zurück und stieß gegen einen Stein. Mein Herz klopfte wie verrückt und mein Atem schien ohrenbetäubend laut.
„Hältst du das für eine so gute Idee, hier alleine herumzuirren? Ich meine, du bist Lady Elena, die Auserwählte.“
„Edmond!?“ Ich sprang auf, rannte auf ihn zu und umarmte ihn. „Warte, wo ist Amira?“ fragte ich.
„Sie war bei dir? Ich dachte, du wärst alleine. Dann war sie die Person, die vorhin weggerannt ist. Verdammt. Wir müssen sie sofort suchen! Also, es sei denn, du willst lieber hier bleiben.“
„Nein auf gar keinen Fall!“ Er grinste mich an. Wir schlichen los. Plötzlich blieb er stehen, duckte sich hinter einem Strauch und zog mich zu sich. Instinktiv sah ich mich um, konnte aber nichts erkennen. Jetzt flüsterte Edmond: „Was ist eigentlich mit Claryen und Bruno? Und wie lange bist du jetzt schon hier?“ Er wirkte irgendwie besorgt.
„Bruno und Clary suchen dich im Tal, vermute ich. Und ich bin jetzt ungefähr einen Tag hier. Das ist nicht schlimm, oder?“ fügte ich hinzu, als ich seinen Blick sah. Er fing an zu fluchen.
„Wir müssen sofort in den Wald.“ Er stürmte los. Ich rannte ihm keuchend hinterher: „Was ist denn los?“
„Du musst zurück, oder du kommst erst in einer halben Ewigkeit wieder!“, rief er. Wir waren inzwischen schon durch den Tunnel und rannten in Richtung Wald. Es waren noch ungefähr 10 Minuten bis zur Lichtung.
Als wir endlich da waren, schloss ich die Augen und zählte bis fünf. Nachdem ich sie wieder aufgeschlagen hatte, erblickte ich meine Tante. Seltsam. Ich war nicht bei mir zu Hause, aber auch nicht mehr auf der Lichtung. Wo war ich? „Sun, Karl, da seid ihr ja endlich.“ war meine Tante, deutlich verärgert, zu vernehmen.
„Entschuldige, dass wir so spät kommen, aber wir mussten erst Elena und Claire wegbringen. Also Kate, wie machen wir es jetzt?“, meine Mutter sprach irgendwie angespannt. Sie sahen so viel jünger aus.
Ich fragte: „Warum seid ihr hier?“ Es gab keine Reaktion. Als ich meine Mutter am Arm festhalten wollte, spürte ich nichts. Ich griff sozusagen durch ihren Arm hindurch. Als ich mich richtig umschaute, erkannte ich das Restaurant am Straßenrand. Jetzt wusste ich, wo ich war und zu welcher Zeit. Ich war in der Stadt am Markt, am 11.09.1998. Das war der Tag, an dem meine Mutter uns zu unserer Oma gebracht hatte. Und das war auch der Tag, an dem das Restaurant explodiert war, welches meine Tante in den Tod gerissen hatte. Als mein Blick auf die Kirchenuhr fiel, sah ich, dass es noch ungefähr 10 Minuten bis zur Explosion sein mussten. Plötzlich kam jemand aus dem Restaurant gerannt. Meine Mutter umarmte meine Tante und rannte auch weg. Ich sah Tante Kate zum Restaurant blicken und ging näher zu ihr, um sie zu umarmen, ihr zurufen, dass sie weglaufen soll. Aber sie schloss nur ihre Augen, als ob sie auf etwas warten würde. Es verstrichen ein paar Sekunden und plötzlich war sie weg. Ich starrte dahin, wo meine Tante bis gerade eben noch gestanden hatte. Die Explosion zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich schloss meine Augen und zählte bis fünf und dachte mir, wenn ich vorhin von Rethasien hierher in die Vergangenheit gekommen war, müsste ich ja jetzt eigentlich wieder in die Gegenwart zu mir nach Hause oder nach Rethasien kommen. Als ich meine Augen wieder aufschlug, war ich nicht bei mir zuhause, sondern wieder in Rethasien und sah mich, wie ich verschwand.
„Aber, wie geht das? Oh nein. Das ist jetzt nicht wahr, oder? Sag mir, dass du nicht hier bist.“ Edmond klang erst verzweifelt und dann verwirrt.
Ich sagte: „Ich fürchte, ich bin wieder hier. Ja, es ist wahr. Ich bin auch sehr verwirrt, denn ich war eben in der Vergangenheit und habe gesehen, dass meine Tante doch nicht tot ist.“
„Irgendetwas ist gerade mächtig schief gegangen. Ich meine, du solltest jetzt bei dir zu Hause sein. Warte, was hast du gesagt? Du warst in der Vergangenheit?“, fragte er.
„Ja.“
„Was hast du gesehen? Weißt du, wann du dort warst und wo?”
„Also ich habe gesehen, wie meine Tante, meine Mutter und mein Vater am Marktplatz waren. Dann kam jemand aus dem Restaurant und meine Eltern rannten ihm hinterher. Und ungefähr fünf Sekunden später war meine Tante verschwunden. Das war am 11.09.1998“, erzählte ich ihm.
„Nach genau fünf Sekunden?“
„Ich weiß es nicht genau.“
„Es könnte nämlich die Möglichkeit bestehen, dass sie hierhergekommen ist.“
„Aber wenn es wahr ist, dann… “ Ich machte eine kurze Pause und schluckte „Dann lebt sie wirklich noch.“ Ich sah in Edmonds Gesicht. Ich musste sofort nach Hause. Ich meine, meine Eltern, wussten scheinbar davon. „Edmond! Ich muss sofort nach Hause!“
„Es tut mir sehr leid, aber ich befürchte, du kommst erst mal nicht zurück. Du wirst bis übermorgen warten müssen. Also nach deiner Zeit. Das heißt ungefähr eine Woche nach meiner Zeit.“
„Aber meine Familie wird sich Sorgen machen.“
„Du kommst nicht anders zurück. Es tut mir leid. Komm, wir sollten uns einen Platz zum Schlafen suchen.“ Er sah mich an und ging voran. Ich dachte darüber nach, was bei mir zu Hause los war, wenn meine Mutter merkte, dass ich nicht da war.
Clara Ehrke, Klasse 12