Im Moment
Rückblende:
Ich kann mich noch erinnern, wie es sich anfühlt, hier zu sein,
man stolpert durch die viel zu schweren Türen herein
und schlendert wie von selbst die Flure entlang, vorausgesetzt, man ist früh dran – oder man nimmt das Wort „pünktlich“ ernst und rennt (im letzten Moment).
Man kennt jeden Winkel, jede Gerade, jede Form, jede Norm…naja gut, darüber lässt sich streiten,
aber unbestreitbar ist, dass manches unvergesslich ist,
während man anderes gefühlt schon nach dem Abiball vergisst.
Filmriss…
Lichter flackern, Bilder wackeln, Gläser klirren, Schuhe klappern,
unter allem klopft der Bass, „Wo war ich in der Nacht (?) von Montag bis Freitag…“ hab ich doch so
viel gelernt, das scheint mir meilenweit entfernt. Moment mal –
Schule. Leben. Dazwischen ein Schnitt.
Man hat da dieses Wissen. Was macht man jetzt damit?
Auf einmal denken alle, ihr legt einfach los und lebt –
Ihr habt ja Abitur, ihr müsst doch wissen, wie das geht,
unpraktisch nur, dass das so nicht im Lehrplan steht.
Doch wisst ihr was? Ihr wisst schon mehr, als ihr grad zu wissen glaubt. Im Moment fällt mir auf, dass mir aus jedem Fach was blieb. Zum Beispiel:
Der Ton macht die Musik und die Kunst ist zu erkennen,
dass es mehr als eine Farbe gibt und keine mehr als die anderen wiegt und überhaupt der Reiz der
Welt in ihrer bunten Vielfalt liegt – apropos Welt…
er(d)kundet habt ihr sie; jetzt gilt es zu entdecken, dass die Erde eine Kugel ist…mit Kanten und
Ecken. Vielleicht macht gerade das sie so unberechenbar.
Vielleicht ist Mathe dazu da, dass man sich fragt, was wirklich zählt – und ob da an der Tafel nicht ein Vorzeichen fehlt. Oder man lernt, dass man lieber drüber nachdenkt, was man wählt, nicht nur,
wenn‘s ums Abi geht.
Denn die Geschichte ermahnt uns, immer achtsam zu bleiben, das letzte Wort ist nie gesprochen,
weil wir auch heut Geschichte schreiben…
Und das hoffentlich auch ohne, dass die Deutschlehrkräfte leiden, wenn sie das lesen. Was immer ihr redet: denkt daran, es zu belegen!
Und nein – ich habe in den letzten zwei Jahren kein einziges Sonett analysiert, keine Kurve diskutiert und keine Zwiebelzelle seziert (was mich jetzt insgesamt auch nicht so traurig macht),
da fragt man sich doch schon, was hat mir all das dann gebracht?
Naja…Kraft, zum Beispiel, die hat es gebracht. Und Muskelkater, na gut, aber auch Mut, denn hey,
was habt ihr nicht schon alles geschafft? Einen Abschluss absolviert, und das maskiert und
pandemiert, oft abgeschirmt, doch nie allein.
Man wird wie Turnhallentrikots zusammengeschweißt, was noch lange nicht heißt, dass das auch bis zum Abpfiff bleibt, aber mit Glück ist wer dabei, mit dem euch wirklich was vereint.
Ihr habt das Recht dazu und die Gelegenheit, eure engsten Kreise neu zu formen. Wählt weise, mit
wem der Radius stimmt und um wen ihr künftig lieber einen Bogen schlagt.
Wenn es mal nicht rundlief, wen habt ihr um Rat gefragt? Und für wen wart ihr da? Manch wertvolle Begegnung, die ihr mit ins Leben tragt, hättet ihr woanders wahrscheinlich nie gehabt, außer hier.
Schule bringt Momentaufnahmen, die man niemals mehr verliert. Und Wissen ist kein Monument,
für alle Zeit manifestiert, sondern ein Mosaik, das sich ständig neu sortiert.
Was ich sagen will: Denkt bitte nicht, es wäre was umsonst gewesen, nur weil sich momentan noch nicht alles auszahlt. Der Lohn kommt Stück für Stück und irgendwann blickt ihr zurück und denkt:
„Ein Glück(!) kann ich im Schlaf die binomische Formel rückwärts aufsagen und hab mal lateinische
Deklinationstabellen auswendig gelernt.“ Naja, so ungefähr.
Nein, im Ernst, ich weiß genau, man hat euch einiges gelehrt. Jetzt ist die Frage: Was davon wollt ihr euch merken?
Andererseits, mal unter uns, man darf und soll auch was verlernen. Ihr könnt zum Beispiel gern
Perfektionismus zertrümmern, euch daraus etwas Passendes zimmern, vielleicht eine Tür, die sich
leichter (als die hier) bewegt.
Ich kann mich noch erinnern, wie das ist, wenn man hier steht, erleichtert, aufgeregt und sich fragt, „Wie geht’s jetzt weiter?“, wo man doch plötzlich so viel Zeit hat…
Zeit für ein neues Hollywood, probiert verschiedene Rollen aus,
spielt mit Perspektiven, setzt ‘nen Cut, wo ihr ihn braucht und wenn ihr später mal zurückspult und euch all das anschaut,
dann wünsch ich euch, dass ihr lächeln müsst, weil ihr euch selbst kaum wiedererkennt und euch
sicher nicht an alles erinnern könnt, doch dafür wisst, was für immer unvergesslich ist:
dieser Moment.
Juliane Vogler, ehemalige Schülerin (Abitur 2020)