Kopfhörerparadoxon
Kopfhörerparadoxon
Sowas nenne ich das „Kopfhörerparadoxon“. Immer dann, wenn jemand im Zug laut anfängt zu reden, kann ich meine Kopfhörer nicht finden, sie sind zu verheddert, um sie nutzen zu können, die Billigdinger aus dem Mediamarkt haben mal wieder einen Kabelbruch oder sie sind natürlich in der letzten Tasche, in der ich suche. Im Regio, auf dem Weg zu meinem Vater sitzend, passierte es mir, letzten Sonnabend.
„… und deswegen habe ich das Studium abgebrochen. Das habe ich dann auch meinem militanten Faschisteneltern gesagt. Die sollen doch in der Konformität ihres Daseins vergammeln.“, sagt der Anführer-Hipster, wie ich ihn in Gedanken nenne, im Abteil gegenüber. Er sieht aus wie jemand, der Jan-Luca heißt. Jan-Luca verschwindet in seinem Oversize-Pullover, als er sich in den 4er Sitz fallen lässt. Seine Jünger gesellen sich zu ihm.
„Du sagst es Jan-Lucas!“, schmachtet die Person, von der ich vermute, dass sie eine Frau ist.
„Jan-LUCA!“, brüllt er ihr entgegen. „Jan-Lucas war mein altes ich. Berlin hat mich zu einem ganz neuen Menschen gemacht, da muss auch ein Name her, der was ausdrückt.“ Bis gerade eben wollte ich noch gemütlich sitzend Seeed hören, aber nach diesem Satz ist mir eher nach Slipknot zu Mute.
„Leute, lasst uns jetzt mal ein Gang zurück schalten, ok?!“, sagt der/die/das Dritte. „Wir wollten doch raus auf´s Land, um uns mal wieder selbst zu fühlen, nachdem uns Berlin so erdrückt hat. So, jetzt trinkt jeder mal seine Mate und dann sieht die Welt schon ganz anders aus.“, fährt er fort. Der Zug verlässt Berlin und hält in Spandau.
Jan-Luca öffnet seine Tasche und sein MacBook. „Also wie machen wir jetzt weiter mit dem Drehbuch? Also die beiden Kommissare Jan und Luca sind auf der Suche nach dem Starbucks-Killer.“
„Oder KillerIN“, betont das Mädel.
„Ja oder KillerIN, wie auch immer. Bis jetzt haben sie an drei Tatorten Starbucksbecher gefunden. Die bisherigen Opfer hatten einen Frappucino-Soja-Vanillaflavored in Grande, einen Milchkaffe mit Senf und einen Früchtetee mit Fleischbällchen gefunden.“, resümiert der Chef. Beim Wort „Fleischbällchen“ zucken alle drei zusammen.
Die Handlung nimmt immer lächerlichere Ausmaße an, als ein Handwerker in Arbeitsmontur in Falkensee zusteigt und den Platz vor mir, gegenüber den Hipstern, belegt. Nach wenigen Minuten meldet er sich zu Wort: „Pass uff, ick glob mir hackt dit. A priori muss ick mal festhalten, dit ihr allesamt, wie ihr da sitzt, nach Apotheke stinkt. Und weil wir jerade dabei sind, mir wurden vor na juten halben Stunde 2 Weisheitszähne jezogen, wat meine Stimmung jetzt och nich unbedingt uffn Siedepunkt bringt. Und zu juter letzt noch wat: Euern inhaltsbefreiten Quatsch könnter euch für eure Bachelor sparen oder dit euch inne Haare schmieren, da hat ja jede RTL2 Soap mehr Hirn und Reality. Meine Fresse, geht uff´n Bau, da jibt dit mehr von zu erzählen, als ihr Flachpfeifen euch dit ausdenken könnt. Meine Fresse.“
Ungläubige Gesichter, offene Münder. Ich würde dem Mann gerne die Füße küssen, denn er sorgt dafür, dass diese nervigen Hipster endlich den Mund halten. Ich erinnere mich, dass ich eigentlich Musik hören wollte. Was genau nochmal? Ich weiß es nicht mehr, aber dann stelle ich eben auf shuffle. Erst mal muss ich jedoch diese verdammten Kopfhörer finden. Habe ich sie überhaupt eingesteckt? Oder liegen sie vielleicht noch in der WG auf meinem Schreibtisch?
Wir halten in Nauen. Der Zug öffnet noch nicht mal seine Türen, da höre ich schon das Gegröle. Ich habe eine wage Vorahnung, was das zu bedeuten hat und verdrehe die Augen: Sicherlich Fußballfans. Union oder Hertha hatten bestimmt ein Heimspiel heute. Diese Vorahnung wird bestätigt, als eine Truppe Männer reinkommt, um deren Hals rot-weiße Schals hängen. Sie singen mehr oder weniger zusammen irgendetwas von „Wir sind die Kranken“ und „Unsere Farben sind weiß und rot.“, einer schlägt dazu halbwegs im Takt auf die Plastikverkleidung des Zuges. Sie alle haben ein Bier in der Hand, zwei tragen einen weiteren vollen Kasten. Besonders glücklich sehen sie nicht aus, dafür manche von ihnen umso betrunkener. Sie stolpern in meine Richtung und einer brüllt: „Fahrradabteil! Leute, hier dürfen nur Fahrräder stehen!“ Einer stößt lachend mit ihm an und sie setzen sich trotz seiner wahrscheinlich ironischen Bemerkung. Immer diese Fußballfans…
Ein Junge stößt aus Versehen eines der Fahrräder um. Jemand mir gegenüber zieht scharf die Luft ein. Es ist Jan-Luca mit hochrotem Kopf. Wie geil! Da hat der eine Fan doch tatsächlich ausgerechnet sein Rad umgeworfen. Wenn er sich jetzt mit ihm anlegt, wird das noch eine amüsante Show hier! Jan-Luca steht auf, reckt die Brust hervor und strafft die Schulter. Soweit ihm das mit seinem dürren Körper möglich ist. „Ey, heb‘ sofort mein Rad wieder auf!“ Keiner reagiert. Nochmal: „Eeey, Junge, du hast mein Fahrrad umgeworfen, stell es wieder hin!“ Nun drehen sich einige der Fans um. Der Junge antwortet ungläubig: „Redest du mit mir?“ „Mit wem sonst, du Spast?! Ihr Fans seid doch alle gleich! Nichts als Randale, Gewalt und Suff! Heb‘ jetzt mein Rad wieder auf, sonst kannst du was erleben!“. Ich vermute, Jan-Luca hat keine Lust mehr, zu leben, denn das war vermutlich sein Todesurteil.
Der Junge und zwei Männer wollen gerade in seine Richtung gehen, da öffnen sich in Paulinenaue die Türen unseres mittlerweile schon vollen Abteils. Eine schwangere Frau mit einem Kinderwagen steht verunsichert und hilflos vor dem Spalt zwischen Zug und Bahnsteigkante. Sofort stehen alle Männer der Truppe auf und stellen ihre Getränke beiseite. Drei auf einmal stürmen auf die junge Mutter zu und bieten ihr ihre Hilfe an, um den Kinderwagen in den Zug zu hieven. Alle sind wie verwandelt. Mehrere bieten sogar einen Sitzplatz an, den die Frau dankend annimmt. Auch der Junge grinst nochmal zu dem Schwächling Jan-Luca rüber, hebt das Fahrrad auf und widmet sich wieder der Spielauswertung mit seinem Kumpel. Ich bin wirklich überrascht. So viel Hilfsbereitschaft kann man von „normalen Zivilisten“ in Berliner S-Bahnhöfen ganz sicher nicht erwarten. Anscheinend sind nicht alle Fußballfans gleich. Sind halt doch nur normale Menschen. Vielleicht sogar noch gemeinschaftlicher und engagierter als normale Menschen…
Ich persönlich kann nicht viel mit Fußball anfangen. Noch nicht einmal zu Europa- oder Weltmeisterschaften können mich meine Kumpels dazu überreden, mit ihnen die Spiele vor dem Fernseher zu verfolgen, geschweige denn mit zum „Public Viewing“ zu kommen. Eigentlich bin ich kein Spießer, aber mir geht der Hype einfach auf die Nerven. Zur besagten Zeit bin ich am liebsten im Ferienhaus meines Vaters.
Nach der Scheidung lernte er einen komischen, aber reichen Typen kennen. Das ist jetzt knapp fünf Jahre her. Seitdem kauft er ihm, was er will, egal wie teuer. Womit er sein Geld verdient, weiß ich nicht. Soll mir auch egal sein. Hauptsache mein Paps ist glücklich … Naja und einen positiven Nebeneffekt hat es natürlich auch. Denn mein Erziehungsberechtigter ist glücklich, wenn ich es bin. Grundsätzlich bin ich es vor allem dann, wenn der Kühlschrank gefüllt, die Angel parat steht und man mich in Papas Domizil in Ruhe lässt.
Mich wundert es jedes Mal auf’s Neue, dass noch keiner meiner Freunde auf die Idee gekommen ist, sich selbst einzuladen und einen „Partymarathon“ zu veranstalten. Andererseits hat auch aus anderen Gründen keiner meiner Freunde zu mir Kontakt aufgenommen. Aber ich bin der letzte, der sich darüber beklagt, wenn sie was wollen, kommen sie alle wieder an. Trotzdem kommt mir „Wish you were here“ in den Sinn und ich beginne zu summen. Wo waren jetzt diese verdammten Kopfhörer? Naja, Hirn siegt über Technik. Eine Cloud hat zwar viel zu bieten, aber ohne Kopfhörer kein Zugriff. So bleibe ich mit der „Hirn-mp3“ allein.
Eine Durchsage erklingt im Zug, die die Fußballfans zum andächtigen Schweigen bringt: „Aufgrund personeller Probleme verzögert sich unsere Weiterfahrt um wenige Minuten“, knarzt es aus dem Lautsprecher, dessen Tonqualität so schlecht ist, dass ich schwer sagen könnte, welchen Geschlechts unser Zugbegleiter ist. Personelle Probleme, von einem Mitarbeiter, der verschlafen hat, bis hin zu einem Amoklauf im Führerstand kann das alles bedeuten. Im Flugzeug hätte ich bei solch einer Verzögerung wenigstens schon Kopfhörer und ein Gratisgetränk bekommen. „Deutsche Bahn besser, aber immer noch nicht gut.“
Natürlich beginnen sofort alle im Wagon mit diversen Spekulationen darüber, was denn passiert sein könnte und was „…um wenige Minuten…“ bedeutet.
Dieses allgemeine Spekulieren steigert sich deutlich, als zwanzig Minuten später zwei Bundespolizisten den Zug betreten. Einer von beiden kommt mir auffällig bekannt vor. Ich denke für mich, dass diese Zugfahrt noch einiges an „Unterhaltung“ zu bieten haben wird.
Die Uniformierten schreiten rasch an mir vorbei, die Fußballfans starren betreten zu Boden. Das Baby der Schwangeren schreit und durchbricht so gemeinsam mit den Schritten der Polizisten die peinliche Stille.
Na endlich jemand, der für Ordnung sorgen kann. Die Polizei ist zugestiegen, um die Fans in den verschiedenen Abteilen etwas unter Kontrolle zu halten. Vielleicht sind sie der Grund warum wir uns so viel Verspätung einfahren. Die Polizisten gehen durch die Waggons, bleiben aber in direkter Nähe zu den Fans, welche sich nun deutlich ruhiger verhalten. Ein ICE überholt uns.
Vorhin war die Rede von „Personalmangel“. Hoffentlich hat nicht wieder der Fahrdienstleiter mit dem Handy gespielt und eine Signalstörung oder Schlimmeres ausgelöst. Ich schaue auf mein Handy: Bereits 15 Minuten Verspätung. Wäre auch zu einfach, wenn alle Züge einfach so fahren würden, wie sie sollten. Den Satz „Pünktlich wie ein Deutscher Zug“ kann ich nur selten nachvollziehen. Die Zugbegleiterin nimmt den Hörer für eine Durchsage ab, ein unvorstellbarer Lauter Ton schallt durch die Waggons…Eine Rückkopplung vom Feinsten… Man sollte vielleicht auch in der Kabine stehen, wenn man das Mikrofon benutzt.., denke ich mir. Man hört: „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund einer technischen Störung verzögert sich unsere Weiterfahrt noch einmal um 10 Minuten.“ Supi, sind dann schon 25 Minuten Verspätung. Die allgemeine Laune verschlechtert sich. Der Zug der ODEG in die entgegengesetzte Richtung fährt an uns vorbei.
Ich schaue mir die Polizisten genau an und glaube, einen Kumpel zu erkennen. Das müsste David sein. Ihn kenne ich von einigen Partys und aus der Uni, hatte aber länger keinen Kontakt mehr zu ihm. Er schaut sich um und erblickt mich. Ich lächle und nicke ihm freundlich zu. Nach einem kurzen Gespräch mit seinem Kollegen geht er auf mich zu und setzt sich zu mir. David ist sehr groß, trägt blaue Polizei-Sachen und man sieht ihm an,dass er regelmäßig Sport macht. Im Gegensatz zu mir hat er einen Kopfhörer im Ohr, um mit seinem „Team“ in Kontakt zu bleiben. Zusätzlich hat er einen Schlagstock und eine Waffe dabei.
„Ist ja mal een Zufall dit wir uns hier treffen, wa?“ Ja, David berlinert, und zwar nicht zu knapp. „Ja, jetzt kann ich dir mal bei deiner Arbeit zusehen.“, sage ich. „Du siehst ganz anders aus in deinen Dienst-Klamotten“. „Joa, muss ja mal ne? Is zwar n bisschen warm, aber dit passt.“ David hatte recht. Die Klimaanlage scheint mit dem Zug eingeschlafen zu sein. Es wird mit der Zeit immer wärmer in den Abteilen. Ich frage David ob er weiß, warum wir hier so lange stehen. „Nee, keene Ahnung. Ick bin nur hier, um nach den Fußballfans zu gucken.“, ist seine Antwort. „Wie lange musst du sie eigentlich begleiten?“, frag ich. „Bis zum Olympiastadion, wir unterstützen dann die Kollegen der S-Bahn.“ „Naja, dit jeht ja.“ sag ich scherzend. Die Zugbegleiterin macht eine erneute Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste, unsere Fahrt kann nun fortgesetzt werden.“ Daraufhin hört man ein leises Jubeln aus dem oberen Stockwerk. Die Fußballfans rollen mit den Augen, freuen sich aber, dass es endlich weiter geht. Türen werden geschlossen. Man hört den Pfiff und es geht weiter.
„Wo willst du denn hin“, fragt mich David. „Ich will bloß nach Hause, nichts besonderes, hab nur leider meine Kopfhörer vergessen.“, sag ich. „Ach dit is mir och schonmal uffn Flug passiert. Hab dann einfach die anderen Menschen beobachtet und mich fast schlapp jelacht. Wenn du mit offenen Ogen durch die Gegend löfst, kriegste erstmal richtig mit, wat um dich herum so allet passiert.“ Mir fiel auf, dass ich meine Kopfhörer auch schon seit geraumer Zeit nicht mehr wirklich brauche. Wenn man einfach mal durch die Gegend schaut, wird man oftmals schon genug unterhalten. Die automatische Ansage kündigt Bahnhof Spandau an. David blickt auf. „Hier muss ick raus, wir müssen ma wieda labern“ „Gute Idee!“, antworte ich. Ich schaue den mittlerweile wieder grölenden Fans hinterher, wie sie das Gleis wechseln. Die Polizisten steigen mit aus. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wenn sie Glück haben, schaffen sie es noch rechtzeitig zum Anpfiff.
„Berlin Zoologischer Garten“, meine Haltestelle naht. Die Schwangere mit dem Kinderwagen steht auch auf. Am Bahnhof helfe ich ihr den Wagen auf den Bahnsteig zu heben. Sie bedankt sich nett. Eigentlich ein Tag, wie jeder andere es auch sein könnte und doch finde ich, dass ich heute mehr von der Welt mitbekommen habe als sonst.
Friedrich Albrecht, Miriam Frisch, Marie Luise Thoms, Jan Gregor Schumacher