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Warum Engel fallen – Teil 1

Songs über Songs fegten durch die Menschen und brachten sie zum Tanzen. Gläser wurden lachend abgestellt und klirrten. Blut floss wie wild durch die geweiteten Adern.

Alle waren laut und feierten ausgelassen.

Brie wollte sich schon von der Tanzfläche abwenden, um mit drei Stunden Verspätung doch noch nach Hause zu kommen. Aber … dieses Lied! Sie musste noch bleiben! Brie zuckte lachend über sich selbst mit den Schultern. Bei sonstigen Partys hatte sie sich bisher gut im Griff gehabt. Aber heute war die Versuchung, aus welchem Grund auch immer, viel größer und riskanter. Wenn sie einmal anfing zu feiern, konnte sie schlecht wieder aufhören. Wenn sie einmal anfing zu tanzen oder zu trinken, musste sie den Moment auskosten – oder eben die Stunden.

Am Abend vor der Cluberöffnung hatte sie zu sich selbst gesagt: Du guckst nur herein, trinkst ein Glas , tanzt zu drei Liedern und dann bist du wieder verschwunden! Schließlich musst du morgen arbeiten!

Daraus war überhaupt nichts geworden. Selbst ihr Job war nun egal. Hauptsache Brie hatte Spaß. Man lebt schließlich nur einmal!

„Hey! Hast du schon den neusten Drink probiert?”

Brie drehte sich wippend zu der Stimme um. „Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, was ich  getrunken habe”, lachte sie.

Tief in ihrem Bewusstsein erinnerte sie sich daran, dass man keine Getränke von Fremden annahm. Aber es war ihr in diesem Moment egal. Dazu schaute die Blondine mit der freundlichen Stimme einfach zu nett aus. Ohne zu zögern, nahm Brie das Glas entgegen und stürzte es herunter. Die nächsten Stunden verschwammen vor ihren Augen. Die tanzenden Menschen wurden zu einer Masse. Ihr Gewissen ertrank in einem Meer von Alkohol.  Der Weg nach Hause wurde ein einziges Chaos. Brie wusste nicht mehr, wie sie es in ihre Wohnung geschafft hatte.

~

Anstatt von Alkohol rann nun die reine Panik durch Bries Adern. Der Chef hatte gemeint, noch eine Verspätung und sie wäre gefeuert!

Brie starrte wie vom Blitz getroffen auf die Uhr. Punkt 12.

Zur Arbeit konnte sie jetzt nicht. Dann wäre sie ein für alle Mal weg. Jedoch … ein Krankenschein könnte sie aus der Bredouille bringen.

Immer noch benebelt zog sie irgendetwas an, nahm die Autoschlüssel, sowie ihr Portemonnaie und stürzte die Treppe herunter.

„Dafür komme ich in die Hölle!”, murmelte Brie zu sich selbst und ließ den Motor an.

Mit dröhnendem Schädel fuhr sie durch die belebten Straßen der Großstadt. Das Quietschen der Reifen, das Hupen eines anderen Autos und ein lautes Knallen rissen sie aus dem Sitz und aus dem Leben.

~

Brie stand auf dem Gehweg und blickte auf die zwei ineinander gekrachten Autos.

Wobei … sie stand nicht wirklich da und auch wenn jeder erschrocken auf die Unfallstelle schaute, schien sie niemand zu bemerken. Nur eine Person. Der Mann starrte sie an und Brie starrte zurück.

Sie hatte das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.

„Waren Sie der andere Fahrer gewesen?” Die Frage kam ihr nur schwer über die Lippen.

Der Mann stotterte: „Ich … Ich muss. Dann haben Sie plötzlich die Spur gewechselt? Warum zum Teufel haben sie das getan?”

Brie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich komisch an. Das tat um genau zu sein ihr ganzer Körper. „Entschuldigung. Die letzte Nacht ist leicht aus dem Ruder gelaufen.”

Doch der Mann schien ihr nicht zuzuhören. Er wedelte mit den Händen vor den Gesichtern der anderen Menschen.

„Warum sieht mich niemand? Sind … wir tot?”, überlegte er panisch. Brie klappte die Kinnlade herunter, als sie näher auf ihr Auto zuging. Dort auf dem Lenkrad lag sie. Blutend, leblos, tot. 

„Schauen Sie hier”, flüsterte sie dem anderen Mann zu, der sich sofort zu ihr umdrehte und ebenfalls seine Leiche betrachtete.

Beide zuckten zusammen, als eine merkwürdige Präsenz sie erfüllte.

Ein helles Licht zuckte durch Zeit und Raum. In einem weißen Gewand stand urplötzlich eine Gestalt zwischen ihnen.

Mit engelsgleicher Stimme sagte sie: „Das dort sind Ihre Körper. Jetzt existieren nur noch ihre Seelen. In einer kurzen Befragung stelle ich fest, ob sie für das weitere, ewige Leben im Himmelreich in Frage kommen.”

„Aber mein … ich muss doch den Krankenschein abholen. Ich darf nicht gefeuert werden”, flüsterte Brie entsetzt.

Aufgebracht antwortete der Mann der Frau: „Ich darf an keinem Test teilnehmen! Ich muss doch noch meine Präsentation halten! Das hätte der größte Deal meines Lebens werden können. Und Sie haben es versaut!”

Brie zuckte zusammen, als er auf sie zeigte.

Die Frau räusperte sich: „Sie sind tot. Es gibt für sie beide nichts mehr zu tun. Nur noch diesen letzten Test.”

„Wer sind Sie überhaupt?”, wollte der Mann nun wissen.

Die Frau verzog ihr Gesicht. Selbst bei dieser Bewegung sah sie makellos aus. „Was sehen Sie?”, entgegnete sie.

Brie zuckte zweifelnd mit den Schultern: „Eine Frau in weißen Klamotten?”

Brie hörte auf zu atmen und rieb sich die Augen. Prächtige, mächtige, weiße Flügel waren wie von Zauberhand an den Seiten der Frau aufgetaucht.

„Ich bin ein Engel”, beantwortete die Frau- Nein der Engel seine eigene Frage.

Göttliche Hände streckte sie den beiden entgegen.

„Kommt. Wir sollten beginnen.”

Dem Mann und Brie schien nichts anderes übrig zu bleiben. Also nahmen sie jeweils eine Hand.

Auch wenn Brie anscheinend flog, hatte sie das schreckliche Gefühl zu fallen. Wo wurden sie von dem Engel hingebracht? Und um was handelte es sich bei diesem Test?

Ihr wurde wirklich übel.

Der Engel hielt in einem Raum an. Aber es gab keine Wände, keine Begrenzung. Alles war nur weiß und hell. Außerdem gab es einen Tisch und drei Stühle. Sie schmückten dieses himmlische Nichts. Himmlisch … Himmel.

„Sollen wir in den Himmel kommen?”, fragte Brie vorsichtig nach. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nie wirklich an den Himmel gedacht. Aber das musste sie jetzt wohl.

Der Engel antwortete kryptisch: „Wenn Sie die Fragen ehrlich und zutreffend beantworten.”

Das Himmelswesen deutete auf die Stühle. Der Mann und Brie setzten sich gleichzeitig.

Während der Engel Platz nahm, verschwanden die Flügel wieder und auf wundersame Weise tauchten vor ihm auf dem Tisch einige Papiere auf. Wer hätte gedacht, dass es im Himmel – oder eben der Frageebene – Papier gibt?

„Warum glauben Sie, sind Sie des Himmels würdig?”, kam der Engel sofort zur Sache. Brie zog den Kopf ein, doch der Mann antwortete spontan: „Weil ich nie jemandem Unrecht angetan habe und allen Gesetzen und Regeln gefolgt bin. Außerdem bin … war ich ein immer sehr zuverlässiger und hilfsbereiter Mensch.”

Nervös leckte sich Brie über die Lippen, als der Engel sie erwartungsvoll ansah. „Weil … weil ich immer versucht habe, mein Bestes zu geben – auch wenn es nicht immer gereicht hat, weil ich nie jemandem etwas nachgetragen habe und Fehler vergeben konnte. Schließlich war ich selbst nicht perfekt.”

Vorwurfsvoll sagte der Mann zu ihr: „Das kann man wohl sagen. Nicht perfekt!”

Brie schluckte: „Ich sagte doch schon Entschuldigung! Außerdem weiß ich wirklich nicht, wie das gestern Abend passieren konnte … alles ist so verschwommen und unwirklich.”

„Konzentration!”, rief der Engel dazwischen. „Was ist die schlimmste Straftat, welche sie je begangen haben?”

Brie blinzelte verzweifelt. Was waren das für Fragen?

Der Mann wandte sich wieder dem Engel zu und antwortete höflich: „Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Einige Male habe ich bestimmt vergessen, höflich zu sein oder Danke zu sagen. Sonst weiß ich nichts.”

Beinah höhnisch betrachtete er Brie von der Seite.

Sie murmelte hingegen: „Muss ich wirklich darüber reden?”

Überhaupt nicht geduldig antwortete der Engel: „Ja!”

„Dann ist es offensichtlich. Ich habe ihn umgebracht und mich dazu.”

Als wäre es überflüssig, erwiderte der Engel leicht zynisch: „Danke für ihre Ehrlichkeit. Nun möchte ich wissen, wie…”

Ein himmlisches Klingeln erklang aus dem Nichts. Abrupt und mit versteinerter Miene stand der Engel auf und streckte die Flügel aus.

Sophie Kulisch und Alexandra Fritz, Klasse 11