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Emily Dickinson

Ich sitze an einem Freitagnachmittag auf einer Parkbank und starre ins Nichts. Total in Gedanken versunken, bekomme ich dennoch mit, wie sich jemand neben mich setzt. Kurz schaue ich zur Person auf, ein gutaussehender junger Mann. Er trägt ein schickes Hemd, eine Cordhose und in der Hand hält er ein Buch. “Emily Dickinson”, die Frau vom Buchrücken trägt Mittelscheitel und beeindruckt mit ihrem schlankem Hals. Mir ist, als starrte sie mich gerade zu an. “Stör ich?”, fragt mich der Lesende. Ich verneine und schaue wieder in die Leere. Es ist still zwischen uns, außer die Geräusche, die dabei entstehen, wenn man eine Buchseite umblättert, komplette Stille. Es vibriert in meiner Tasche, also greif ich nach meinem Handy. Die neue Freundin von meinem Ex-Freund fragt, ob sie sich den Fernseher aus meiner Wohnung abholen könne. Stimmt, den hatte er allein bezahlt. Ich schlucke schwer, denn er hatte erst letzte Woche mit mir Schluss gemacht. Langweilig, zu langweilig bin ich ihm. So langweilig, dass man mir das per WhatsApp mitteilen musste. Wahrscheinlich hatte er Recht, ich arbeite am Fließband und packe Anti-Allergie-Tabletten in ihre kleine Schachtel. Das spannendste, was mir je auf Arbeit passiert ist, war der Tag, an dem die neu designten Verpackungen ankamen. Mein Lieblingsgetränk ist Wasser, ich sammele Papier aus der Zeit, in der es noch keine DIN-Normen gab. Damals, als das Format eines Briefes eine Aussage war und außerdem mag ich die Stille. Plötzlich fällt mir eine Strähne ins Gesicht. Seit Tagen probiere ich meinen Pony mit einer Spange weg zu klemmen. Ich wollte nie einen, aber die Friseurin meinte, er kaschiere meine große Stirn. Sie hatte mich mit ihrer extrovertierten Art verunsichert, jetzt hab ich gesunde Spitzen und einen fürchterlich schiefen Pony. Ich schaue auf mein Smartphone – eine neue Nachricht. Mit Bedauern stelle ich fest, dass es sich hierbei um keine Person handelt, die an mich denkt, sondern nur eine Mitteilung, die mich daran erinnert, dass mein Datenvolumen aufgebraucht ist. Mir kullert eine Träne die Wange herunter, als ich mein Handy einfach so weit werfe wie möglich. “Ich hasse mein Leben…”, meine Zähne beißen stark aufeinander. “Soll ich es beenden.”, der Fremde schaut nun gelassen zu mir hinüber. “Entschuldigung?!”, ich bin fassungslos, will der mich umbringen? “Beziehungsweise ich würde es ja machen, aber ich kann nicht.”, er grinst freundlich. Wie bitte was…verwirrt und zu perplex, um irgendetwas zu sagen, fühle ich mich wie gelähmt. “Oh, ich bitte um Verzeihung, ich habe mich gar nicht vorgestellt.”, er schnippt mit dem Finger und das Buch verschwindet. Selbstbewusst reicht er mir die Hand. “Ich bin Tod.”, meine Augen weiten sich. “Du bist ein Geist?”, die Frage verlässt zögerlich meinen Mund. Mein Gegenüber legt seine Stirn in Falten und schüttelt seinen Kopf, “Nein nein, ich bin DER Tod, ich kümmere mich um die Sterbenden, der Tod mit D Tod und…”. “Aber du siehst so anders aus.”, unterbreche ich ihn. “Du meinst so lebendig?”, Ich nicke. “Ja, ich verstehe auch nicht, warum mich die Leute mit Sense und Knochenhand sehen, natürlich finden mich viele gruselig, aber dabei kennt man mich doch schon lange. Ich bin unsterblich und in der Blütezeit meines Lebens. Dieses lange schwarze Gewand tut so gar nichts für mich. Unpraktisch ist es auch, stell dir vor, du wäscht dir die Hände und deine Ärmel werden jedes Mal nass…killer”, “Der Tod trägt Cordhosen.”, stelle ich schmunzelt fest. Jetzt schaut Tod sehr unzufrieden, “Die sind zu viel, oder? Stundenlang stand ich vor meinem Kleiderschrank.” Das erste Mal seit Wochen lache ich wieder und beruhige ihn, er sehe toll darin aus. “Hör zu Hase, ich begleite viel Menschen – mal länger, mal kürzer. Weißt du, was passiert, wenn Leute sterben? Ich bringe sie an den Ort und die Zeit zurück, an der sie am glücklichsten waren, dort leben sie weiter. Aber bei dir existiert das nicht. Ich schaue Leuten in die Augen, tief in die Augen und weiß, wo ich sie hinbringen soll. Du bist ganz anders.”, wow, ich presse meine Lippen aufeinander. “Ich weiß, dass du nicht hier bleiben möchtest, aber ich kann dich nicht einfach so mitnehmen. Tag für Tag begleite ich dich, um herauszufinden, wo du hingehörst.”, “Das ist wohl das netteste, was mir je an den Kopf geworfen wurde.”. Er lächelt gequält: “Siehst du, genau das mein ich. Du hattest eine uncoole Kindheit, so ohne Geschwister und mit strengen Eltern, die sich für ihre Tochter schämten. Selbst schuld, sie haben dich im Musikcamp angemeldet, damit du lernst, die Panflöte zu spielen. Über die Zahnspangen-Phase wollen wir gar nicht erst reden. Du hast einen schlecht bezahlten Scheißjob, mit einem unfairen Chef und nicht mal deine Kollegen mögen dich. Jetzt im Ernst, Lisa lädt sogar Sara zu ihrem Geburtstag ein. Du bist bei jedem Lied von Gotye textsicher, aber magst den Song ‘Somebody That I Used to Know’ nicht. Du schläfst schon seit Jahren schlecht und wenn du ehrlich bist, mochtest du Eric gar nicht. Seine neue Freundin ist übrigens ganz fürchterlich, aber wenn sie umfallen würde, wüsste ich, wo ich sie hinbringe.” Will er mich jetzt aufmuntern oder nicht: “Heißt das, ich kann nicht sterben?”. Nach dieser Frage atmet er einmal tief ein und präsentiert mir ein weiteres Mal seine Grübchen: “Ach, noch ist nichts verloren, wir bekommen das schon hin.”. Ich überlege: “Wir? Du bleibst jetzt so lange, bis ich sterbe? Jetzt bekommt der Spruch ‘am Ende wird alles gut’ viel mehr Bedeutung.”, “Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch nicht zuende. Ach so übrigens dein Meerschweinchen ist tot.”. Meine Mund springt auf: “Was?!”, “Ja sorry, hab es mitgenommen, als du auf dem Weg zum Park warst. Herzversagen ups… es hatte auch echt Übergewicht, naja wir müssen jetzt sowieso los.” Er lässt mir keine Zeit, um zu verarbeiten, greift meine Hand und zieht mich mit sich, “Wohin gehen wir?”. “Ich hab‘ gesehen, dass du auf der einzigen Klassenfahrt, zu der du mit durftest, im Theater warst und hätten dich deine Klassenkameraden nicht gehänselt und wäre dir auf der Hinfahrt im Bus nicht super schlecht geworden, hättest du echt Spaß gehabt. Heute Abend läuft der Klassiker ‘Faust’, deswegen essen wir jetzt ein Eis, dann schmeißen wir uns in Schale und gehen ins Theater.”, er schnippt und in seiner Hand befinden sich zwei Eintrittskarten.

“Wie wird man eigentlich Tod?”, frage ich zugegebenermaßen sehr plump. “Es gibt viele Wege zu sterben…”, “Nein, wie kommst du zu deiner Berufung?”, er bleibt kurz stehen. “Wie wird man sterblich? Ich glaube man wird da so reingeboren.”, ich sehe nur seine Schultern zucken, als er weiter geht.

“Hast du eine Lieblingseissorte?”

“Weiß nicht…Vanille”

“Ach man…”

Emma Albrecht