Tintenblau
Es begann mit kleinen Bildern.
Solche, welche Eltern sich an den Kühlschrank hängen, um dir das Gefühl zu geben, gut zu sein.
Doch diese Bilder waren nie gut, so wie meins:
Klein, unordentlich, tintenblau, so verbreitete sich die Farbe auf meiner Hand.
Unordentlich und doch unübersehbar.
Alte Zeichnungen, aus dem Unterricht der zweiten Klasse.
Das erste Mal mit Füller – wie in die Haut gebrannt.
Nach einigen Tagen wurden die Bilder zu Namen.
Namen von Bekannten, Verwandten, Freunden, die mich kannten, Jungs, die mich verstanden.
Mit der Zeit wurden Namen zu Daten.
Daten, nach denen die Lehrer fragten.
Daten aus Deutsch, Mathe und Englisch.
Daten, die mich bestraften, die mir sagten, dass ich sie sowieso vergessen werde.
Und wenn der Test begann, wurden Daten gelöscht.
Wenn die Freunde kamen, wurden Namen versteckt und Bilder übermalt.
Mir wurde schmerzhaft bewusst gemacht, dass ich Abstand genommen hatte.
Abstand von Bekannten, Verwandten, Freunden, die mich einmal kannten, Jungs, die mich vielleicht einmal verstanden.
Mir wurden Erinnerungen gezeigt, die ich verdrängte, im Meer der Vergangenheit ertränkte.
Und mir wurde bewusst:
Das einzige, was ich immer wollte war „glücklich sein“ und dafür brauchte ich keinen Neuanfang.
Doch trotzdem wurden Bilder zerrissen, Namen durchgestrichen und Daten vergessen, denn ohne es zu merken, veränderst du dich, nimmst Abstand und vergisst, wer du bist, denn ein Neuanfang ist ein Ende.
Ein Ende vom Anfang des Neuen.
Und mit „Neuem“ nimmt man Abstand vom „Alten“, entfernt sich mit Zeiten.
Alte Freunde werden durch neue getauscht.
„Bekannte“ mit „Verwandte“ vertauscht.
Sachen werden ausgesucht, vorgebucht, umgetauscht.
Ich fühle mich ausgebucht, ausgesucht, ausgetauscht.
Denn einen Neuanfang buchstabiert man nicht mit „Glück“.
Sophie Lobodda, Klasse 9
Eva-Hoffmann-Aleith-Preis 2022, Epik Preisträgerin