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Annalen aus Eihpos

Annalen aus Eihpos:

Was siehst du im Dunkeln?

Was tust du, wenn du ein Schloss erbst? Was würdest du zuerst erkunden? Was würde dir am meisten gefallen? Würdest du darin wohnen? Aber wie willst du dein Erbe ohne Augenlicht besichtigen?

Dem jungen Benjamin Caillat ist genau das Widerfahren, was sich viele wünschen. Nachdem Tod seiner Tante, erbt er das Anwesen der Caillats. Mit seinem Freund Christopher begibt sich Benjamin in den Wald von Brocéliande, um das kleine Schloss zu besichtigen. Seit langem spielt Christopher die Augen von Benjamin. Beiden ist bewusst, was sich über Brocéliande erzählt wird. Angeblich soll dort das Grab des sagenumwobene Zauberer Merlin stehen, sowie der See der Viviane liegen. Den Freunden ist bewusst, dass das nur Sagen und Legenden sind. Aber was liegt unter dem Schloss? Was verbirgt sich in dem Labyrinth von dunklen Gängen? Bald kann Benjamin nicht mehr unterscheiden, was Traum und was Wirklichkeit ist.

~ Kapitel 1 ~

Benjamin Caillat lehnte seinen Kopf gegen das Kissen, das zwischen ihm und der Fensterscheibe lag. Nach Aussagen Christophers, der immer noch fuhr, hatte er die letzten zwei Stunden verschlafen. Auch wenn Benjamin nichts sehen konnte, wusste er, dass sie nicht mehr lange fahren mussten. Der Wagen holperte nur so über den Feldweg, den sein Freund schon eine ganze Weile entlangfuhr.

»Wie geht’s dir, Ben?«, fragte Christopher schließlich.

Benjamin konnte nicht wirklich sagen, wie er sich fühlte. Zum einen so leer und traurig. Zum anderen wollte er sich zusammennehmen. Ben wusste, dass sein Freund ihn nie wegen seiner Blindheit bemitleidet hat. Die beiden kannten sich seit ihrer Kindheit und Christopher wusste, dass es seinem Freund bestens ging. Doch der plötzliche Tod seiner Tante hatte Benjamin etwas deutlich gemacht: Jeder starb einmal und er würde sie nie erblicken können.

»Wie soll es mir gehen, Chris?«, antwortete Benjamin bedrückt.

Christopher atmete hörbar aus. „Auch für mich war es ein Schock, weißt du? Deine Tante Elenor sah so aus, als würde sie nie sterben.«

»Das ist ja der Punkt«, murmelte Benjamin, »du hast sie gesehen. Ich sehe nur Licht und Schatten. Ich kann mir keine Fotos ansehen, um mich an die Person anzusehen. Ich rede nicht nur von meiner Tante.«

Christopher sah seinen Freund kurz gequält an. Schnell konzentrierte er sich wieder auf den holprigen Weg vor ihnen.

»Ben, das mir deinen Eltern war ein tragischer Unfall. Und ja, ich kann mir Bilder von verstorbenen Verwandten ansehen, aber du übertreibst. In deinem Gedächtnis sind so viele Erinnerungen verankert, die ich nicht einmal erahnen könnte. Du weißt, wie schlecht mein Gedächtnis ist und du dagegen erinnerst dich an alles. … Ich- Ich bin es der sich schlecht fühlen sollte«, Christopher brach die Stimme weg.

Benjamin schluckte und fragte behutsam nach, was Christopher damit meinte.

Beide standen sich so nah wie Brüder und waren auch so aufgewachsen. Sie teilten eine Menge Erinnerungen miteinander.

Leise redete sich Christopher den Schmerz von der Seele.

»Immer wenn deine Tante uns Briefe geschrieben und uns gefragt hat, was wir den Sommer getan haben, konntest du einen ganzen Roman darüberschreiben. Und ich … verdammt, ich erinnere mich einfach an nichts mehr! Als wäre es mir egal, dabei ist es mir nicht egal! Für dich hört es sich wahrscheinlich lächerlich an, aber manchmal wünsche ich mir mit dir tauschen zu können. Auch ohne Sehvermögen behältst du die Leute um dich herum so in Erinnerung, wie sie es verdienen. Ich schaue mir die Bilder an und frage mich nur, welche Rolle die Leute in meinem Leben eigentlich gespielt haben«, zum Ende hin wurde Christophers Stimme immer leiser.

Eine ganze Weile wurde nichts gesagt. Im Hintergrund spielte das Radio ein Lied nach dem anderen ab.

Benjamin räusperte sich vorsichtig: »Wir sind schon ein spezielles Pärchen. Der eine sieht nichts, der andere erinnert sich an nichts. Noch Fragen?«

»Haben wir noch Sandwiches?«, erwiderte Christopher trocken.

Benjamin musste kurz anfangen zu grinsen. Er griff in den Korb, der hinter dem Beifahrersitz stand, und tastete nach einer Plastikverpackung. Geübt öffnete Benjamin sie schließlich und hielt dem Fahrer das Sandwich hin. Vor seinem inneren Auge konnte Benjamin förmlich sehen, wie Christopher schon beim ersten Bissen das Gesicht verzog. Auch wenn er selbst keines dieser ekelhaften Sandwiches mehr essen wollte, nahm er sich auch eine Verpackung aus dem Korb.

»Nächstes Mal machen wir die Dinger selber«, krächzte Benjamin und suchte nach der Wasserflasche zu seinen Füßen.

»Ich«, sagte Christopher vorwurfsvoll, »habe von Anfang an gesagt, dass wir Sandwiches selbst machen müssen. Das billige Zeug kann man doch keinem anbieten. Vor allem nicht die mit Eiern. Aber du meintest ja, dass wir dafür keine Zeit haben.«

»Nicht nur keine Zeit, auch kein Talent. Schon vergessen, dass du mich fast mit einem Tee umgebracht hast?«, widersprach Benjamin ihm.

»Das war ein einmaliges Versehen. Wir sprechen hier immer noch von belegten Broten und nicht Crème brûlée, oder? Es ist ja nicht so, als hätten wir uns Proviant von einem Bäcker holen können. So arm sind wir nun auch wieder nicht.«

»Du weißt, dass ich geizig bin. Außerdem habe ich ein Schloss geerbt, von dem ich nicht wusste, dass es existiert. Das muss ich irgendwie in Stand halten.«

»Aber Essen ist essentiell Ben! Überlebenswichtig! Sollen wir bis zum Ende unserer Tage nur noch trocken Brot und Wasser essen, oder wie hast du dir das gedacht?«

»Wir?«, fragte Benjamin verwirrt nach.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich wieder nach Hause fahre. Entweder mit dir oder gar nicht. Ich lass dich doch nicht in irgendeinem Schloss versauern«, auch wenn Christopher breit lächelte, meinte er es todernst. Das wusste Benjamin auch.

Trotzdem fragte er: »Und was willst du den ganzen Tag tun? Auf mich aufpassen, dass ich mir nicht bei irgendeiner Treppe den Hals breche, weil ich runterfalle?«

»Also eine Treppe lass ich dich erst herunterfallen, wenn du mich in deinem Testament als Erben des Schlosses eingetragen hast. Dann kann ich es für nen Haufen Kohle verschachern, auf die Malediven fliegen und komme nie wieder zurück«, bei dem Gedanken an Sonne und weiße Strände lächelte Christopher träumerisch.

»Ich glaub, dass du mit einem Haufen Kohle nicht sehr weit kommst«, Benjamin konnte sich ein Auflachen nur knapp verkneifen. Als Antwort bekam er Christophers Ellenbogen leicht in die Seite gerammt.

»Wie witzig … wie witzig.«

Die restliche Fahrzeit lauschten beide den Liedern aus dem Radio und hingen ihren Gedanken nach.

Christopher kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er auf das Schlosstor zufuhr. Er versuchte verzweifelt Benjamin alles zu beschreiben, was er sah. Von dem herbstlichen Mischwald vor dem Anwesen, über den See links daneben, zu dem hinaufführenden weißen Kieselsteinweg und dem Schloss selbst. Für Benjamin war das Gebäude nur ein dunkler Fleck. Die vielen Türme und Säulen waren mit Verzierungen überhäuft. Auch an Wasserspeiern mangelte es nicht. Kaum kam Christopher auf der stablien Holzbrücke, die über den fast ausgetrockneten Wassergraben führte, zum Stehen, wurde das schwere Holzportal geöffnet.

»Anscheinend sind wir nicht allein. Jemand hat die große Holztür vor uns geöffnet«, murmelte Christopher Benjamin zu.

»Hatte der Notar nicht etwas von einem Butler gesagt?«, zuckte Benjamin mit den Schultern, während Christopher den Wagen durch das geöffnete Tor fuhr.

Er blinzelte einige Male, als sie auf dem Innenhof hielten.

»Nicht nur ein Butler. Eher ein ganzer Hofstaat.«

Zwar konnte man die Angestellten des Caillats Schlosses nicht als Hofstaat bezeichnen, aber die Reihe von Gärtnern, Köchen, Butlern und Leuten vom Wachdienst kamen der Bezeichnung sehr nahe. Benjamin hatte sich nie Sorgen um sein Geld machen müssen, das wusste Christopher auch, aber bis heute hatten beide nicht begriffen, wie groß Benjamins Reichtümer eigentlich waren. Wie viel ihm seine Eltern und Tante vererbt haben.

»Dann wollen wir mal«, murmelte Benjamin, packte seinen Blindenstock und stieg aus dem Wagen. Beinahe gleichzeitig schlugen die jungen Männer die jeweilige Autotür zu. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Einer der Butler trat einige Schritte hervor und mit einer großen Geste, die alle Anwesenden umfassen sollte, sagte er freundlich: »Willkommen im Caillats Schloss, Benjamin. Ich bin Phil, einer der Butler.«

Zögerlich winkte Benjamin in die Richtung, in der er Phil vermutete. Was sollte er sagen? Sollte er als neuer Eigentümer etwas sagen?

»Ja … hallo alle zusammen. Ich bin Benjamin wie ihr sicher wisst und das ist mein Freund Christopher. Wir freuen uns sehr, euch alle kennenlernen zu dürfen.«

Kurz applaudierten alle, dann liefen sie wieder in das Schloss, um ihrer Arbeit nachzugehen. Zwei Paar Füße kamen auf Benjamin zu. Christopher und Phil.

»Habt ihr zwei schon etwas Vernünftiges gegessen?«, fragte Phil fürsorglich. An seiner Stimme erkannte Benjamin, dass der Mann schon etwas älter sein musste.

»Oh ja. Wir haben schon gegessen«, antwortete Christopher. Sein Unterton ging leicht ins Bedrohliche.

»Und was war es, wenn ich fragen darf«, hakte Phil weiter nach.

Benjamin konnte sich Christophers breites, falschen Lächeln beängstigend genau vorstellen, als dieser antwortete: »Es waren Sandwiches. Klassische, einfache Sandwiches. Es gibt nichts Besseres als Sandwiches nicht war, Benjamin? Die guten, alten Sandwiches.«

Benjamin presste die Lippen aufeinander, räusperte sich und nuschelte: »Ja, die leckeren Sandwiches.«

Phil antwortete bestürzt: »Doch nicht die aus dem Supermarkt, oder? … Auch die, die mit Ei belegt sind? Meine Güte. Das muss eine lange Fahrt gewesen sein.«

Unerwartet lachte Christopher so laut los, dass Benjamin und Phil zusammenzuckten. Der dunkelhaarige Lockenkopf lachte so laut, als hätte er die ganze Zeit der Fahrt hochgrinsend dagesessen. Was er überwiegend getan hatte.

Nach Luft ringend, bekam sich Christopher soweit wieder in den Griff, dass er es schaffte zu sagen: »Für Benjamin schon. Ich habe meine Schinken-Käse-Brötchen genossen, als wir auf den Raststätten gehalten haben.«

Benjamin sah völlig perplex zu seinem Freund, der wieder einen Lachanfall der Sonderklasse bekam.

»Das Rascheln«, erschloss er sich langsam, »das waren Schinken-Käse-Brötchen gewesen?!«

Christopher lachte nur weiter. Japsend konnte er etwas sagen, dass sich stark nach »Hast du es nicht gerochen?« anhörte.

Benjamin verschränkte empört die Arme: »Weil du uns jedes Mal neben einer dieser stinkenden Mülleimer gesetzt hast, bedauerlicher Weise nicht.«

Dann murmelte er noch etwas davon, was für einen verräterischen Freund er doch hatte. Phil betrachtete die Szene mit einem stillen Schmunzeln.

»Dann gebe ich euch beiden erst einmal einen groben Überblick über das Schloss und danach sehen wir weiter.«

Phil, der in diesem Schloss praktisch aufgewachsen war, konnte sehr viel erzählen und schilderte detailliert, was wo stand. Jeder zweite Wandteppich erzählte von der Artussage, dem Zauberer Merlin oder Viviane. Vereinzelt schmückten Schwerter und andere Waffen die Wände. Der Boden war größtenteils mit einem dicken Teppich ausgelegt oder einfach nur kalter Steinboden. Benjamin nutzte seine visuelle Vorstellung, um sich einzuprägen, wo was lag. Als Besitzer des Schlosses wurde nicht viel von ihm erwartet. Er sollte die Kosten im Überblick behalten. Mit Christopher an seiner Seite, den Sohn eines Finanzberaters, sollte das keine zu große Aufgabe zu sein. Das Schloss befand sich in einem guten Zustand und das Vermögen seiner Eltern und Tante war geradezu unübersichtlich. Wieder einmal stellte sich Benjamin sich die Frage, woher das ganze Geld eigentlich kam. Vielleicht wollte er den Grund aber auch gar nicht wissen.

Zudem wurde das Schloss zeitweise als Hotel genutzt. Mit dem mittelalterlichen Ambiente, dem mystischen Wald, den Sagen und Legenden, die die Umgebung betrafen, ließen sich schnell Besucher anlocken. Doch nur der Ostflügel war für die Gäste zugänglich. Der Westflügel, der direkt an den See grenzte, war privat. Phil sagte ihnen auch, dass man die zuletzt angereisten Gäste wieder ausgeladen hatte, damit der neue Hausherr sich eingewöhnen konnte.

Benjamin fand, dass es eine schöne Geste war, aber mehr auch nicht. Man müsse wegen ihm keine besonderen Vorbereitungen treffen.

Hausherr – das Wort hallte Benjamin noch während des Abendessens in den Ohren. Dieses großartige, wunderbare Schloss und die Umgebung gehörten nun ihm. Das nur, weil seine Tante gestorben war.

Zuletzt zeigte Phil Christopher und Benjamin noch ihre Zimmer. Besser gesagt Suiten. In den riesigen Himmelbetten könnten nach Christophers Meinung vier Personen schlafen. Da Christopher nicht wollte, dass seinem Freund nicht noch irgendetwas geschah – er könnte ja gegen irgendein Regal laufen – schlief Christopher in Benjamins Zimmer.

Beide saßen auf einem Sofa, das vor einem prasselnden Kaminfeuer stand.

»Was hattest du eigentlich mit all den Nudelpackungen vor?«, fragte Benjamin und streckte sich ausgiebig.

»Woher weißt du von meinem Notfallplan?«

»Die Köchin hat es mir erzählt, als du zur Toilette gegangen bist.«

Christopher verschränkte die Arme: »Wie gesagt war es ein Notfallplan. Irgendwie hätten wir schon etwas Wasser zum Kochen bekommen und dann Nudeln gegessen. Zwar ohne Sauce aber tausendmal besser als Sandwiches.«

Benjamin verzog das Gesicht: »Wenn du noch einmal dieses verdammte Wort sagst, bring ich dich um!«

»Welches Wort meinst du denn?«, fragte Christopher mit einer Unschuldsstimme, »war es etwa Sandwiches

Benjamin sah wütend zu seinem Freund.

»Meinst du etwa diese leckeren, klassischen, unfassbar außergewöhnlichen Sandwiches mit Schinken und Ei? Die die so aromatisch geschmeckt haben?«, zog Christopher seinen braunhaarigen Freund weiter auf.

Blitzschnell warf Benjamin ein Kissen in Christophers Richtung. Ein empörtes Grummeln sagte ihm, dass er getroffen hatte.

Wenig später fielen beide todmüde in das große Bett.

Sophie-Malin Kulisch, Klasse 10