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Prolog zu „Nur einen Sommer lang“

Prolog zu

„Nur einen Sommer lang – Erzählung“

von Janette Oke

Es gibt diesen einen Moment im Leben, an dem sich alles ändert.

Der eine Moment, an dem jemand die kleine, wohlbehütete Welt sachte in die Hand nimmt, sie einmal kräftig durchschüttelt und wieder genauso sachte, wie er sie genommen hat, wieder zurücklegt.

Dass danach aber nichts mehr dort ist, wo es sein sollte, ist demjenigen nicht wirklich bewusst.

Sie fragen sich jetzt bestimmt, was das für ein Gefühl ist, wenn ein Erdbeben der Stufe 9,5 das eigene Leben beben und erschüttern lässt. Nach diesem Sommer kann ich Ihnen die Frage beantworten.

Es ist ein Gefühl des Fallens.  

Der Boden, der doch all die Jahre immer so zuverlässig dagewesen war, ist plötzlich nicht mehr da. Und man fällt.

Man fällt und fällt. Immer tiefer in das dunkle Loch.

In das dunkle Loch, umgeben von Unsicherheiten und der Frage, was da wohl kommen mag?

Alles um einen herum fängt an, sich zu drehen.

Doch plötzlich ist da wieder dieser jemand, der die Welt in der Umdrehung stoppt, sie anhält und sachte an den Platz zurücklegt, von dem er sie genommen hat.

Die ganze, kleine Welt – komplett verschoben, verdreht, auf den Kopf gestellt.

Oben ist nicht mehr oben, sondern oben ist jetzt unten und unten ist nicht mehr unten, sondern unten ist jetzt oben.

Doch wer kommt jetzt, um einem beim Aufräumen und bei dem Auf-rechts-drehen zu helfen. Richtig! In den meisten Fällen niemand.

Mein Name ist Lou und meine Welt wurde sachte angehoben, als ich gerade einmal 17 Jahre alt war…

Alles begann damit, dass eines Tages die beiden Menschen in meinem Leben, die mir am meisten bedeuteten, an unserem Esstisch saßen und meine Zukunft besprachen, während ich nichtsahnen ein Stockwerk über ihnen schlief. Die beiden Menschen an unserem Esstisch waren mein geliebter Vater und mein Onkel.

Aber hören Sie doch einfach selbst.

Ronja Fischer, Klasse 11

Janette Oke – „Nur einen Sommer lang – Erzählung“

Seiten 18 bis 22 (Auszug)

Opa: Irgendwas scheint dir an der Sache zu mißfallen. Findest du nicht, dass Pa kommen sollte?

Onkel Charlie: Also, Hilfe braucht er schon, das ist ganz klar, und ich, also, ich würde ihn mächtig gern wiedersehen. Ist ja schon so lange her… Aber ich dachte, äh, dass, äh, vielleicht sollte ich besser zu ihm fahren und ihn dort versorgen.

Opa: Willste etwa von hier weg?

Onkel Charlie: Meine Güte, nee!

Opa: Glaubste, Pa ist zu alt für die Reise?

Onkel Charlie: Seinem Brief nach zu urteilen muss er noch ganz gut dran sein.

Opa: Was denn dann?

Onkel Charlie: Lou.

Opa: Lou?

Onkel Charlie: Ja, Lou.

Opa: Lou hätte ganz sicher nichts dagegen.

Onkel Charlie: Nee, bestimmt nicht. Aber das ist es ja gerade.

Opa: Da komm‘ ich nicht mit.

Onkel Charlie: Daniel, wie viele junge Mädchen von siebzehn Jahren kennste, die n großes Haus, nen Garten, zwei alte Männer und nen hungrigen Jungen versorgen? Und jetzt kommen wir daher und halsen ihr noch einen mehr auf. Das ist nicht fair. Sie gehört doch auf den Tanzboden und….

Opa: Lou macht sich nichts aus dem Tanzen.

Onkel Charlie: Woher auch? Hat es auch nie gelernt. Wir haben ja dafür gesorgt, dass sie Brot backen und Fußböden scheuern musste, sobald sie die Puppen in die Ecke gelegt hat.

Opa: Willste etwa damit sagen, dass Lou unglücklich ist?

Onkel Charlie: Klar ist sie glücklich! Dazu hat sie viel zu viel Nächstenliebe. Sie glaubt doch, dass sie alle Welt traurig macht, wenn sie selbst unglücklich ist. Und das will sie ja wahrhaftig nicht.

Opa: Hast recht. Ist kein einfaches Leben für Lou.

Onkel Charlie: Und eines Tages führt sie dann jemand anders den Haushalt anstatt uns. Und das könnte passieren, bevor wir uns versehen.

Opa: Was, Lou? Die ist doch noch so jung!

Onkel Charlie: Nix da, jung! Bald wird sie achtzehn. Ihre Mutter war mit achtzehn verheiratet, falls du dich erinnerst, und ihre Großmutter ebenso.

Opa: Das ist mir nicht aufgefallen, dass Lou schon….

Onkel Charlie: Anderen Leuten ist’s aber aufgefallen, da kannste Gift drauf nehmen. Jedesmal, wenn wir in die Stadt fahren, egal, ob zum Einkaufen oder in die Kirche, gucken diese jungen Grünschnäbel hinter ihr her und versuchen, ihr n Lächeln zu entlocken. Eines Tages wird sie‘sselbst merken.

Opa: Hübsch genug ist sie ja.

Onkel Charlie: Klar ist sie hübsch, mit ihren großen blauen Augen und diesem Lächeln. Du, wenn ich jung wär‘, ich würde auch hinter ihr hergucken!

Opa:, Mensch, Charlie, wir haben geschlafen! Lou ist tatsächlich alt genug zum Heiraten und wir haben nichts unternommen.

Onkel Charlie: Was meinst du mit „unternehmen“?

Opa: Du hast doch selbst gesagt, dass es früher oder später soweit sein würde, und vielleicht schon bald. Wir müssen uns schleunigst nach was passendem für sie umgucken. Schließlich gebe ich meine Lou nicht jedem hergelaufenen Kerl zur Frau.

Onkel Charlie: Haste kein Vertrauen zu Lou?

Opa: Charlie, du weißt doch so gut wie ich, dass Lou nicht mal nem Stinktier was Böses nachsagen würde. Stell dir mal vor, der Falsche steht plötzlich vor der Tür steht und will sie heimführen. Woher soll n unerfahrenes Ding wie Lou wissen, was wirklich hinter dem Kerl steckt. Du und ich Charlie, wir kennen n bisschen mehr von der Welt. Wir müssen halt zusehen, dass ihr der Richtige über den Weg läuft.

Onkel Charlie: Und wie willste das anstellen, bitteschön?

Opa: Weiß ich noch nicht genau, das muss ich mir erst noch überlegen. Hol mir mal n Stück Papier und nen Bleistift, Charlie.

Onkel Charlie: Wofür?

Opa: Wir müssen unseren Grips mal n bisschen anstrengen und ne Liste machen. Ich will nämlich keine bösen Überraschungen erleben.          Lass uns mal systematisch vorgehen. Erst südlich, dann westlich, dann nach Norden und zum Schluss östlich der Stadt Also erstmal Wilkins: hat keine erwachsenen Söhne. Die Petersons: alles Mädchen. Turleys: der Älteste dürfte bald zwanzig sein, aber der ist so schüchtern.

Onkel Charlie: Faul dazu. Der rührt doch keine Hand, wenn’s nicht sein muss.

Opa: Den schreib mal gleich unter „abgelehnt“.

Onkel Charlie: Crawford: der hat zwei Söhne, Jim und Sandy.

Opa: Jim hat schon n Mädchen.

Onkel Charlie: Sandy?

Opa: Der ist dumm wie Bohnenstroh.

Onkel Charlie: Schreib den auf die Rückseite.

Opa: Haydon?

Onkel Charlie: Die haben William.

Opa: Fleißig.

Onkel Charlie: Sieht aber nicht besonders gut aus.

Opa: Darauf komm’s ja nicht nur an!

Onkel Charlie: Hoffentlich weiß Lou das auch!

Opa: Es ginge ja noch, wenn er nur nicht so schiefe Zähne hätte!

Onkel Charlie: Lou hat so schöne, gerade.

Opa: Die Kinder werden sicher die Zähne vom Vater erben.

Onkel Charlie: Wir sind immer noch nicht weiter mit Pa gekommen.

Opa: Das erledigt sich von selbst. Es braucht sowieso Zeit, bis er hier ist, und bis dahin ist Lou längst verheiratet und weg von hier, und dann braucht sie keine drei alten Männer mehr zu versorgen. Wir werden schon irgendwie ohne sie fertig. Haben wir früher doch auch gemacht.

Onkel Charlie: Hm. Ja.