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Die Stimme des Königs (2)

Die andere Welt


Erstaunlicherweise hatte ich dann ziemlich lange geschlafen. Nur als ich wach wurde, merkte ich, dass ich nicht mehr in meinem Bett lag ,sondern in einem Wald. Ich sah mich um. Es war ein Tannenwald. Der Boden war von Moos bedeckt. Ich sah einen schmalen Bach und es lag leichter Nebel in der Luft, durch den die Sonnenstrahlen, die durch die Baumwipfel fielen, sichtbar wurden. Es erinnerte mich an einen Märchenwald. Alles wirkte wunderschön. An einer der Tannen kletterte ein Eichhörnchen hoch und ich vernahm das Gezwitscher von Vögeln, die auf den Ästen saßen. Ein Reh sah mich neugierig an. Als ich mich aufsetzte fiel mein Blick auf einen Jungen, der in meiner Nähe auf einem Baumstumpf saß. Der Junge beobachte das Eichhörnchen. Er war groß, schlank, ungefähr in meinem Alter (18) und hatte zerzaustes schwarzes Haar. Er hatte eine Art Stoffrüstung an. Er sah ziemlich gut aus, aber auch altmodisch. Vorsichtig ging ich in seine Nähe. Dann hörte ich wieder das Bellen hinter mir. Der Junge drehte sich zu mir um, schaute mich aber nicht an. Dann rief er: „Bruno, da bist du ja endlich! Ich dachte schon du kommst nicht mehr her.“ Und innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich der Hund in einen Jungen. Dieser war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als der andere. Er hatte dunkelbraunes bis schwarzes Haar und ein rotes dreckiges Tuch darum gebunden, damit seine Haare nicht in sein Gesicht hingen. Er hatte dunkle Kleidung an, die etwas verrückt aussah. Er trug einen schwarzen Mantel, der ihm viel zu groß war.

Bruno sagte: „ Es tut mir wirklich leid, dass Ihr so lange warten musstet, Eure Hoheit. Ich war noch bis vor wenigen Minuten in der Menschenwelt, um dieses Mädchen zu finden. Und ich habe sie gefunden. Sie hieß doch Elena ,oder?“

„Ja. Und was habe ich zu dem „Hoheit“ gesagt?“ sagte der (sozusagen) Prinz bzw. König.

„Sie haben gesagt, ich soll Sie Edmond nennen“, sagte Bruno. Ich war total verwirrt. Denn Bruno hatte meinen Namen genannt. Und scheinbar war ich in einer anderen Welt, in der sie mich nicht sehen konnten. Jetzt erkannte ich erst die Stimme wieder. Die Stimme bei mir zu Hause war Prinz Edmonds Stimme. Sie waren in meiner Welt gewesen und ich war jetzt in ihrer Welt.

„Hallo? Könnt ihr mich sehen?“ Und plötzlich drehten sie sich zu mir um. Und Edmond sagte an Bruno gerichtet: „ Sie ist hier. Sie hört uns und sieht uns.“

Das war jetzt aber zu viel, er sprach von mir, als wäre ich ein Tier. „ Könntest du bitte richtig mit mir reden. Ich bin ein Mensch. Und könntest du mir mal erklären, warum zum Teufel ich hier bin?“, rief ich.

Er sagte gelassen: „Du bist hier, weil du die Auserwählte bist. Entschuldigung, dass ich so seltsam geredet habe ,aber das macht man, wenn man etwas nicht sieht.“

„Entschuldigung. Ich konnte es nur nicht fassen ,dass ich hier bin. Wieso bin ich eigentlich hier und was meinst du mit der Auserwählten?“

„Das werde ich dir alles erzählen, aber jetzt muss ich dich erst mal zu mir nach Hause bringen. Hier ist es nicht sicher. Bruno, wir treffen uns an der Quelle in zwei Stunden.“ Bruno nickte, verwandelte sich in einen Adler und flog davon. Ich sah ihm erstaunt hinterher und fragte den Prinzen: „Was ist Bruno für ein Wesen? Das ist echt cool. Kann er sich in noch mehr Tiere verwandeln?“

„Du bist ja sehr wissbegierig. Das gefällt mir. Bruno ist ein Gestaltenwandler. Das heißt, er kann sich in jedes Tier verwandeln, welches er kennt und auch schon gesehen hat. Das ist für ihn manchmal aber auch ziemlich schwer, wenn er zum Beispiel Angst hat, verwandelt er sich immer in ein für ihn unpassendes Tier. Er kann manchmal auch nicht kontrollieren, in was er sich verwandelt. Deshalb hält er sich fast nur im Wald auf, weil er Angst hat, jemanden zu verletzten.“

„Ach so. Kannst du mich jetzt eigentlich sehen?“

„Nein. Aber ich weiß vielleicht, wie es klappen könnte, dich sichtbar zu machen. Und zwar: Denke dir, dass du in dem Stil, wie ich gekleidet bist.“ Er wartete kurz. „Bist du soweit?“ Ich nickte. Doch dann fiel mir ein, dass er mich ja nicht sehen konnte und musste schmunzeln.

„Du hast ein bezauberndes Lächeln, Elena.“

„Du kannst mich sehen?“

„Ja jetzt schon. Da du dich darauf konzentriert hast, so ähnlich auszusehen, wie ich, hast du dich selbst sichtbar gemacht.“

„Heißt das, dass ich zaubern kann?“

„In gewisser Weise schon.“ Er lachte und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Wir gingen nun schweigend durch den Wald und lauschten den Vögeln. Als wir endlich aus dem Wald rauskamen, sah ich einen breiten Fluss. „Wie kommen wir darüber, ohne nass zu werden?“ Doch Edmond war schon längst in ein Loch in unserer Nähe gesprungen und rief: „Kommst du jetzt endlich oder brauchst du eine extra Einladung?“ Ich kletterte ihm hinterher. Das Dunkle wurde durch Fackeln erleuchtet. Der Boden war matschig. Vor uns krabbelten ein paar Mäuse oder Ratten umher. Der Tunnel wurde von Holzpfeilern gehalten. Ich dachte nur: „Hoffentlich bereue ich das jetzt nicht. Wer weiß, wie viel dieser Tunnel aushält.“

Edmond sah meinen besorgten Blick und sagte: „Der Tunnel hat mich noch nie im Stich gelassen. Er wird jetzt bestimmt auch nicht zusammenbrechen.“

„Bestimmt?“

„Er wird nicht zusammenbrechen!“

Na ja, ich hoffe, er hat recht.

Als wir wieder draußen waren, sah ich einen riesigen Baum, der mir vorher ,auf der anderen Seite, gar nicht aufgefallen war.

„Willkommen bei mir zu Hause!“ ,ich dachte, er hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Doch dann sah ich genauer hin, es war eine Art riesiges Schloss in einem Baum.

„Wow! Das ist ja wunderschön. Ist das dein eigenes Schloss?“

„Es gehört meinen Eltern. Wie du vorhin bestimmt mitbekommen hast ,bin ich ein Prinz. Und zwar Prinz Edmond aus Rethasien.“

„Also das Land heißt Rethasien. Und du bist Edmond, der Prinz von hier.“ Ich hielt inne und sprach dann weiter „Du weißt, wo ich wohne, wie ich heiße ,du weißt vermutlich alles über mich. Und ich weiß gar nichts über dich.“

„Na ganz stimmt das ja nicht, dass du gar nichts über mich weißt. Du weißt zum Beispiel ,wie ich heiße und wo ich wohne.“

„Ich möchte dein Gespräch ja nicht stören, meine Hoheit. Aber Sie werden von Lady Claryen erwartet.“ , sagte eine Stimme hinter uns. Ich drehte mich um und sah ein Mädchen mit langen roten Locken. Sie trug ein schwarzes Samtkleid und einen schwarzen Samtumhang.

„ Ach ja“, sagte er „ das hatte ich ja total vergessen. Danke Lady Amira.“ Ich sah ihn fragend an und er fügte hinzu: „Lady Amira, das ist Lady Elena. Lady Elena das ist Lady Amira ,meine Art Dienerin.“

„Sehr erfreut.“ sagte sie.

„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite.“

„Gut“, sagte Edmond „dann wäre das auch erledigt.Komm Elena. Oder möchtest du lieber bei Amira bleiben?“

„Nein sie kann nicht bei mir bleiben. Ich muss jetzt ins Tal. Da kann ich sie nicht mitnehmen.“

„Ach ja stimmt. Dann kommst du lieber bei mir mit.“

„Okay“, sagte ich. Und in Gedanken fügte ich hinzu: „Das ist sowie so besser.“

Also gingen wir eine Treppe hoch. Wir waren jetzt in der Krone des Baumes. Es war magisch. Überall liefen fröhliche Leute umher. Nicht weit von uns spielten kleine Kinder. Es war wie auf einer Art Mittelaltermarkt, weil sie alle so mittelalterlich gekleidet waren. Einige Leute sahen mich verwundert an und fingen an zu tuscheln. Einige Andere grüßten Edmond kurz und liefen dann aber schnell weiter. Ein großer Mann kam auf uns zu und sagte zu Edmond: „Ich soll Ihnen eine Botschaft für Ihren Vater geben. Könnten Sie ihm das geben?“ Er reichte ihm einen versiegelten Brief. Das Siegel kam mir bekannt vor. Aber ich konnte es nicht länger sehen, da Edmond es in seiner Weste verschwinden ließ. Mein Begleiter nickte, packte mich unsanft am Arm und zog mich weg.

„Edmond du kannst mich loslassen.“ Als ich in sein Gesicht sah, bemerkte ich, dass er wütend war.

Mit einem „Oh , verzeih mir.“ ließ er mich wieder los. Seine Miene hellte sich ein wenig auf und er versuchte mir zuzulächeln. Doch ich sah an seinen Augen, dass etwas nicht stimmte. Ich wandte meinen Blick wieder von ihm ab und sah nach vorne. Da erblickte ich eine Art Turm. Wir gingen hinein und stiegen eine Leiter hinauf. Als wir oben ankamen, sah ich ein weiteres Mädchen. Dieses hatte jedoch eine Rüstung an und langes schwarzes Haar. Das musste Lady Claryen sein.

„Verzeih mir, dass ich jetzt erst komme. Aber ich musste auf Bruno warten.“

„Hatte er wenigstens einen Grund zur Verspätung?“ fragte Lady Claryen. Da meldete ich mich zu Wort: „Er hat mich gesucht.“

„Wer bist du?“

Als ich antworten wollte, fiel mir Edmond ins Wort und sagte: „Das ist Elena aus der „normalen“ Welt. Sie kann sozusagen zwischen den Welten wandeln.“

„Aha. Interessant. Also ist sie das Mädchen der Legende.“

„Ja.“ antwortete er.

„Welcher Legende?“ fragte ich.

„Das erzähle ich dir lieber woanders. Claryen, wir treffen uns in einer Stunde an der alten Eiche.Und wir“, fügte er an mich gewandt hinzu, „wir gehen in den Wald zurück. Es wird langsam Zeit für dich, nach Hause zu gehen.“

„Okay. Dann Auf Wiedersehen Lady Claryen. Es war nett, sie kennen gelernt zu haben.“

„Ja. Auf Wiedersehen Lady Elena.“

Wir kletterten die Leiter wieder runter. Und ich fragte ihn: „Warum muss ich jetzt eigentlich schon gehen?“

„Du hast in dieser Welt ein Zeitkonto. Das bedeutet, du kannst nur für eine gewisse Zeit bleiben.“ antwortete er.

„Ach so. Schade. Mir gefällt es hier wirklich sehr.“

Wir waren mittlerweile wieder auf der anderen Seite des Flusses angelangt und gingen Richtung Wald.

„Wie komme ich eigentlich zurück nach Hause?“

„Wenn wir da sind, wo du ankommen bist, musst du nur deine Augen für vielleicht fünf Sekunden schließen und dann bist du wieder bei dir.“

„Okay.“

Wir gingen weiter schweigend neben einander her. Da kamen wir an die Stelle, wo ich angekommen war. „Wann komme ich das nächste Mal hierher?“

„In ungefähr zwei Tagen… Na dann. Bis in zwei Tagen“, fügte er noch hinzu.

„Ja Tschüss. Bis in zwei Tagen.“ sagte ich und ich freute mich jetzt schon. Ich schloss die Augen und zählte bis fünf. Als ich sie öffnete, war ich wieder in meinem Zimmer und es ging gerade die Sonne auf. Meine Mutter klopfte an die Tür und rief:„Elena, los aufstehen! Sonst kommst du zu spät zur Schule!“

„Ja, Mama ich komme ja schon!“ antwortete ich in einem genervten Ton.

Clara Ehrke, Klasse 11