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Im Hier und Jetzt

Ein bisschen unbeholfen liegt er da, sein Gesichtsausdruck wirkt nachdenklich und ernst. Vielleicht schwebt ihm gerade ein genialer Vers vor, den er mit seinem Blick zu fixieren versucht. Vielleicht fragt er sich auch nur, was es wohl zum Abendessen geben wird.

Mein Blick wandert über den grauen Hintergrund, vor dem der Mann im weißen Gewand thront. Ein Bild für die Götter könnte man sagen: „Goethe in der römischen Campagna“ von einem Maler namens Tischbein. Es zeigt den Dichter bei seiner berühmten Italienreise.

Italien. Reise. Kommt mir bekannt vor.

Ist es nicht erst ein paar Tage her, dass wir als Klasse unsere Blicke in der Ferne der Toskana schweifen ließen? Dass ich am Strand von Viareggio meinen Strohhut festhalten musste, während sich das Mittelmeer in zwei Meter hohen Wellen gegen den Westwind aufbäumte? Und erst eben gerade habe ich mich doch noch gefragt, was wir in unserem Hotel mit seiner eher unverdaulich ausfallenden Kost wohl zu Abend essen würden.

Abschlussfahrt. Oder in der offiziellen Variante: Bildungsreise.

Keine heimlich-überstürzte Flucht vor der erdrückenden Bürokratie eines Ministerpostens, aber dafür ein Ausbruch aus dem stressigen Schulalltag. Wo ein erfolgreicher Dichter tagelang in einer Postkutsche über die Alpen holperte, stolperten 35 Schüler und zwei Tutoren nach mehr als 18 Stunden aus einem kuscheligen Reisebus hinein in eine andere Welt.

In Gedanken stehe ich nun wieder knöcheltief im 23 Grad warmen Salzwasser und kann mein Glück kaum fassen. Zwischen den Zehen kitzelt der weiche Sand, die Luft riecht nach Seetang und Freiheit. Wir sind hier, denke ich.

Wir sind hier.

Goethe suchte nach neuen Orten, um sich selbst wiederzufinden. Orte, wo er die angeblichen Scherben seines Lebens mühselig vom glatten Marmorfußboden aufsammelte und zu einer Majolika-Vase verklebte. Die Vollkommenheit der antiken Kunstwerke und der mediterranen Landschaftsidyllen, die südländische Mentalität und die besonderen Klänge einer vielseitigen Kultur – das alles erfüllte ihn mit Glück und Zuversicht. So wird auch er gedacht haben: Ich bin hier, oder eher gesagt:

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“

Das Hier und Jetzt war für ihn jedoch ein anderes. Andere Städte, andere Zeit. Nichts von wegen „Auf den Spuren Goethes durch Arkadien“. Google Maps führte uns nicht durch dieselben verwinkelten Gassen der Goethe-Zeit und es waren auch nicht dieselben Restaurants, in denen wir uns mittags auf Pizza und Pasta freuten. Eine Horde Abiturienten auf einwöchiger Abifahrt durch die Toskana und ein Universalgenie, das ab 1786 vor allem die Straßen Roms unsicher machte, sind eventuell auch schwer zu vergleichen.

Obwohl sich die Empfindungen von damals und heute also mit Sicherheit unterscheiden, beeindruckten auch uns die aufwändig geschmückten Kathedralen und historischen Gebäude. Und wer war nicht geneigt, bei dem einzigartigen Ausblick über Florenz einmal die Perspektive zu wechseln? Ich kann vielleicht nicht von der gleichen Faszination sprechen, wie Goethe sie damals spürte, aber ich verstehe sehr gut, warum ihn die Zeit in Italien so inspirierte. Er hielt seine Eindrücke sogar in Form von detaillierten Berichten fest. Reisetagebücher wird man in unserem Jahrgang wohl vergeblich suchen, dafür gibt es bunte Instagrambeiträge und Snapchatselfies. Wenn sich auch die eigene künstlerische Produktivität in Grenzen hielt, nahmen wir doch viele neue Erfahrungen mit nach Hause. Zugegebenermaßen, der eine mehr, der andere weniger. Aber zumindest, was man bei der Auswahl einer geeigneten Unterkunft beachten sollte und wie man sich bei gleichbleibender Kantinenkost selbst verpflegt, das haben wir alle gelernt. Denn irgendwann reicht es dann auch wieder mit der Pasta. Basta.

Ein bisschen unbeholfen stehen sie da, manche sind kaum zu sehen. Die Gesichter wirken, wie so oft bei Klassenfotos, gleichermaßen fokussiert und unbeschwert. Sie denken bestimmt gerade an das Abendessen. Oder versuchen einfach nur, nicht im entscheidenden Moment zu blinzeln. Ihre schwarzen T-Shirts tragen goldene Namen und hinter ihnen ragt der Schiefe Turm von Pisa in den grauen Himmel. „Der Abiturjahrgang 2020 in der Toskana“, fotografiert von unserer Stadtführerin.

Ich muss lächeln. Das war sie also, unsere letzte gemeinsame Kursfahrt.

Abschlussfahrt, Bildungsreise, Tapetenwechsel – und vor allem eines: eine richtig gute Zeit. Verständlich, dass Goethe später gleich nochmal in den Süden fuhr, wenn ihn dort auch statt seinem klassischen Idealbild eher verdreckte Straßen und chaotische Verhältnisse erwarteten. Manche Erlebnisse kann man eben nicht wiederholen, und je mehr man es versucht, desto weniger gelingt es.

Werden wir trotzdem irgendwann zurückkommen? Die Optimistin in mir schwenkt als Antwort die rot-weiß-grüne Fahne und freut sich insgeheim schon auf die nächste hausgemachte Steinofenpizza.

„Italiensehnsucht“, so nannte es der Dichterfürst. Und ja, nur zu gern würde ich jetzt wieder im warmen Salzwasser stehen, wo ein Hauch von Seetang und Freiheit in der Luft liegt und der Sand zwischen den Zehen kitzelt. Doch dann ist es nicht zuletzt der Duft von Mama’s Kochkünsten, der mich wieder zurück ins Hier und Jetzt holt. Schließlich hat ein Zuhause ja auch sein Gutes. Oder anders gesagt:

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“


Juliane Vogler, Klasse 12