Natürlich du
(für meine Schwester)
Wenn ich an meine Kindheit denke, mal den Blick aufs Gestern lenke, seh ich uns, nur dich und mich, zwei paar Schuhe, ein Gesicht.
Weißt du noch? Auf der Lichtung Fußball spielen, kurz vorm Tor daneben schießen und zum Trost ein Eis genießen, vielleicht ja nächstes Mal gewinnen. Mit Kannen auf die Blumen zielen, unsere „Frau Sythie“ gießen, bis die gelben Knospen sprießen und wie wir zu blühen beginnen mit der grad erwachten Welt.
Und immer waren wir wir selbst.
Weißt du noch? Jeden Sommer lang am See, statt überhitzt davorzusitzen, spritzend in das Wasser flitzen. Jeden Winter lag der Schnee. Iglu oder Schneemann bauen, sich auch mal aufs Glatteis trauen, wieder aufstehen, wenn man fällt. Und immer waren wir wir selbst.
Sag, weißt du noch? Wandern gehen in den Bergen, irgendwann den Absprung wagen, Schritt für Schritt das Fliegen lernen. Am Ostseestrand dem Wind nachjagen, nichts, was uns in Grenzen hält. Und immer waren wir wir selbst.
Wenn ich an meine Kindheit denke, mal den Blick aufs Gestern lenke, seh ich uns, nur dich und mich, ein ungeschminktes Glücksgesicht, denn Makeup, sowas gab es nicht. Topfschnitt und Nutellamund, topfit, nervig, kerngesund, staunend große Kinderaugen, die überzeugt an Wunder glauben. Kleidung nur nach Stimmung wählen, alles aufrichtig erzählen.
Bunt, lebendig, unverstellt.
Denn immer waren wir wir selbst.
Natürlich!
Und jetzt?
Jetzt verwildert unsre Lichtung Fußball spiel’n wir längst nicht mehr, die Forsythie ist gewachsen, nur das Blühen fällt ihr schwer. Und wie lang ist das schon her, dass ich mal Schlittschuh laufen war und echten Schnee gesehen hab? Und wann gehen wir schon noch wandern oder spielen mit dem Wind? Wenn man groß wird, schrumpfen Flügel, Fliegen kann man nur als Kind. Schau, wer wir geworden sind! Was wir tragen, was wir sagen, alles ein perfekter Schein. Ist es die Natur des Menschen, nie so ganz er selbst zu sein? Um den Fragen zu entkommen, geh ich laufen, hier im Wald. Früher haben wir gespielt, uns an jedem Strauch erfreut, den Klang, den Duft, das Licht gefühlt; dort am See waren wir frei – heute lauf ich dran vorbei. Vielleicht ist es unser Fluchttrieb, wird es schwierig, rennt man weg, übersieht dabei die Schönheit, die sich überall versteckt. Ich glaub, genauso bin auch ich – seh den Wald vor Bäumen nicht. Doch durch Zweige strahlt dein Licht, du sagst: „Schau nur richtig hin, Rettung ist schon bald in Sicht!“
Du zeigst mir zwei kleine Mädchen, Blumen gießend, Bälle schießend, schwimmend, Schlittschuh laufend, sprießend, bunt und unverdorben blühend, und ich kann mich plötzlich wieder der Natur verbunden fühlen. Hab ich mir diese Welt verstellt, führst DU mich wieder zu mir selbst.
Und weißt du was? Wenn ich so an mein Leben denke, mal den Blick aufs Heute lenke, mach ich kurz die Augen zu, und seh es vor mir, hell und klar, was immer meine Rettung war – natürlich DU.
Juliane Vogler