Von Flucht, Hoffnung und Büchern
Von Flucht, Hoffnung und Büchern
Eine Zeit des Krieges, ein Haus voller Bücher und ein Mädchen, dessen einzige Freunde Bücher zu seien schienen.
Immer, wenn Flora aus ihrem Fenster blickte, konnte sie die Straße sehen, auf der ihre Eltern und ihr Onkel verunglückt waren. Sie wohnte mit ihrer Tante Rosa in den Bergen, in einem riesigen Haus, welches vor Büchern überzuquellen schien. Flora und Rosa liebten das Lesen, Bücher waren ihre Freunde. Mit ihnen konnte man sich nicht streiten und man konnte ihnen alles anvertrauen. Ein großer Vorteil gegenüber menschlichen, wie Flora fand, denn immer, wenn sie mit Rosa in die Stadt fuhr, sah sie Kinder, die sich stritten. Sie hatte schon viele Bücher mit ihren jungen sechzehn Jahren gelesen, an die vierhundert waren es sicherlich. Kein Wunder, schließlich kam sie aus einer Familie, deren Leben Bücher waren. Ihre Eltern hatten einen Buchladen, ihre Tante war Illustratorin und ihr Onkel war Buchbinder. Sie hatte es geliebt, ihm bei der Arbeit zuzusehen, wenn er den Schriften die fleckigen Einbände wechselte. Jedoch konnte sie es schon lange nicht mehr sehen, denn schon seit elf Jahren gab es nur noch Rosa und sie. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt war Albert, ihr Hauslehrer, der sie in den verschiedensten Sachen unterrichtete. Rosa hielt es für unnötig, Flora in eine Schule zu stecken, es verblöde den Sinn, sagte sie immer.
Schon seit einem halben Jahr konnte man die Schüsse und Bomben hören, die unten im Tal die Häuser zerstörten und Menschen in den Tot rissen. In ihrem Haus in den Bergen waren Rosa und Flora noch sicher gewesen, jedoch schien die Gefahr jeden Tag näher zu kommen. All das Unglück, das über die Menschen kam, wuchs von Stunde zu Stunde. Albert kam schon seit Wochen nicht mehr, er hatte sich mit seiner Familie auf den Weg gemacht, in ein sichereres Land zu fliehen. Seitdem auch ihre gute Bekannte Marie geflohen war, waren die beiden die einzigen, die noch in der Gegend wohnten.
Eine Meldung im Radio ließ Rosa erschrecken. Sie laß nicht wie sonst am Frühstückstisch, an diesem Tag waren ihr Nachrichten wichtiger. Der Moderator sagte: „Unsere Region liegt in Schutt und Asche, kein Stein steht mehr auf dem anderen. Jeder, der jetzt noch nicht geflohen ist, ist dem Tode geweiht.“ Sie sprang auf und lief ins Badezimmer, in dem Flora sich gerade die Zähne putzte. Sie spuckte die Zahnpasta aus und sah Rosa mit einem fragenden Blick an. „Los, pack’ ein paar Sachen zusammen, wir brechen auf.“, sagte Rosa mit Ernst in der Stimme. „Was wird aus den Büchern? Wir können sie doch nicht hier lassen!“ „Ach nein? Ein schönes Ziel werden wir abgeben, soll ich etwa noch zwei Umzugslaster anfordern?“ Rosa hatte Recht, dachte Flora bei sich, sie konnten sie nicht alle mitnehmen, aber wenigstens ein paar. Sie lief in ihr Zimmer und packte die wichtigsten Sachen zusammen, unter diesen auch etwa zehn Bücher versteckt. Schon eine halbe Stunde später saß sie mit Rosa im Auto, obwohl sie das Haus nur ungern verließen. „Ich hoffe es ist noch da, wenn wir zurück kommen.“, hatte Flora gesagt, worauf ihr Rosa nur mit einem traurigen Blick geantwortet hatte.
Nachdem sie acht Stunden gefahren waren, mussten sie das Auto stehen lassen, weil nirgendwo eine Tankstelle in Sicht war. Ihr Weg ging jetzt zu Fuß weiter. Es war mühsam zu laufen, mit der schweren Last der Bücher auf ihren Rücken, denn nicht nur Flora hatte heimlich Bücher mitgenommen. Übernachtet hatten sie in einer verfallenen Hütte, sie bot guten Schutz und ein Feuer gegen die Kälte konnten sie auch anzünden. So ging es die nächsten Wochen zu. Tagsüber laufen so weit sie konnten, in der Nacht in verfallenen Häusern übernachten.
Flora war traurig, sie hatte Angst, wollte es aber nicht zugeben. Immer wieder hatte Rosa sie gefragt, ob sie Angst hatte und ihre Antwort war immer dieselbe: Nein. Das einzige, was gegen ihre Angst half, waren ihre Bücher. Durch die Geschichten in ihnen fasste sie Mut und Hoffnung.
Irgendwann waren sie in einem Lager gelandet. Ungefähr dreißig Menschen, die auch geflüchtet waren, hatten ein großes Zelt aufgeschlagen. Dort blieben Flora und Rosa für eine Weile, sie freundeten sich mit den Menschen an und wurden wie eine große Familie. Sie erzählten sich gegenseitig ihre Geschichten, aßen miteinander und lasen sich vor. Nach zwei Monaten allerdings verließen Rosa und Flora das Lager, sie wollten weiter, um zu hören, in welchem Stadium der Krieg war. „Hoffentlich ist er bald zu Ende, Rosa. Ich halte all’ den Krach und die Schüsse nicht mehr aus!“, sagte Flora immer wieder. Auch in Rosas Augen sah man die Hoffnung wieder nach Hause zu kommen. Flora floh aber nicht nur mit Rosa an einen sicheren Ort, sondern sie floh sich auch in die Geschichten der Bücher, stellte sich vor, ein Teil von ihnen zu sein. Oft wurde sie durch das Drumherum traurig und niedergeschlagen, aber die Bücher halfen ihr, all das zu vergessen.
Wieder schliefen sie für Wochen in verfallenen oder verlassenen Häusern, um tagsüber zu laufen. Ihre Füße waren wund, die Schuhe schon lange durchgelaufen und die Beine fühlten sich an wie Betonklötze. Wo sie waren, wussten sie nie, auch wenn bei jedem Ort noch das Schild mit dessen Name stand. Sie kamen auf ihrem Weg in einen Ort, der zwar verlassen war, aber nicht zerstört. Hier hatten sie das Nötigste, was man zum Leben braucht und ein Radio. Mit diesem hörten sie tagtäglich die Nachrichten, auch wenn es oftmals keine guten waren. Während sie in diesem Ort lebten, brachte Rosa Flora bei, wie man den Geschichten Bilder gibt. Es war eine schöne Zeit, auch wenn um sie herum der Krieg wütete.
Das Radio setzte seine Stimme frei, als Flora am Rädchen drehte. Seit fast fünf Monaten wohnten sie nun in dem Ort und immer hatte das Radio die gleichen Sachen gesagt. Doch an diesem Tag war etwas anders gewesen. Es sprach nicht wie üblich von hunderten Toten, sondern brachte eine Schaltung zu einem Korrespondenten. Dieser sagte: „In diesen Minuten unterschreiben die Mächte den Friedensvertrag. Der Krieg ist vorbei!“ Flora sprang auf, sie musste Rosa finden. Diese war gerade im Stall eines Bauernhauses und versorgte Hühner, die die beiden zufällig entdeckt hatten. „Rosa, Rosa“, schrie Flora, „der Krieg, du wirst es nicht glauben, er ist vorbei!“ Rosa starrte sie an. „Hast du gehört? Der Krieg ist vorbei!“ Flora zog Rosa mit sich, hin zu dem Haus, in dem das Radio stand. Dort lief die Meldung, dass der Krieg vorbei sei, ununterbrochen. Plötzlich hörten sie Geräusche. Laster, Autos – jemand kam ins Dorf gefahren. Sie liefen auf die Straße und tatsächlich, ein Laster voller Menschen hielt vor ihnen. „Kommt mit, wir fahren in die nächste Stadt.“, sagte einer. „Der Krieg ist endlich vorbei.“, brüllte ein anderer.
Sie fuhren mit in die nächste Stadt, in der man sich melden konnte. Sie hatten überlebt, ohne einen von Kugeln oder Bomben zugeführten Kratzer und das Laufen mit schmerzenden Beinen war vorbei. Doch eine Sache ließ die beiden nicht in Ruhe. Was war mit ihrem Haus passiert und mit den Büchern, die in ihm waren. Mit den Geschichten, die Rosa und Flora nicht auf ihrer Flucht begleitet hatten. Sie mussten es wissen, sie wollten wieder nach Hause. Also schlichen sie sich in der Nacht zu dem Auto, dass man ihnen zur Verfügung gestellt hatte und fuhren den langen Weg zurück in die Berge. Zwar verfuhren sie sich oft, aber irgendwann waren sie auf der Straße, mit der man damals zu ihrem Haus gelangt war. Es war zwar noch ein langer Weg, aber sie konnten sich nun nicht mehr verfahren. In einem Dorf, das an der Straße lag, begegnete ihnen ein Hund. Er sah mager und zerzaust aus. Sie nahmen ihn mit, denn das Glück, welches ihnen erfahren war, wollten sie teilen. Und als sie nach kurzer Zeit vor ihrem alten Haus standen, lag es friedlich da, als wäre nie etwas gewesen. In ihm warteten immer noch die Bücher, die beide vor ihrer Flucht so geliebt hatten, die ihnen Hoffnung gegeben hatten und sie alles andere hatten vergessen lassen und endlich war alles gut.
Anna Pfennig, 9a